Jüdisches Leben in Deutschland steht zurzeit im Fokus öffentlichen Interesses und politisch-gesellschaftlicher Debatten. Dies hat zum einen mit dem wieder erstarkenden Antisemitismus in zunehmend gewalttätigen Ausdrucksformen zu tun. Auf der anderen Seite ist auch das Interesse an jüdischer Geschichte und Kultur gewachsen. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang das Großprojekt „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland”, bei dem im Jahr 2021 bundesweit hunderte von Veranstaltungen, davon zahlreiche auch in Rheinland-Pfalz, von staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen durchgeführt werden. In Rheinland-Pfalz kommt hinzu, dass durch den vom Land, den drei Städten Mainz, Worms und Speyer, der Jüdischen Gemeinde Mainz, dem Landesverband der jüdischen Gemeinden Rheinland-Pfalz und der jüdischen Kultusgemeinde der Rheinpfalz sowie dem eigens dazu gegründeten Verein SchUM-Städte Speyer, Worms, Mainz e. V. der Antrag um Aufnahme der einzigartigen mittelalterlichen jüdischen Stätten in das UNESCO-Weltkulturerbe auf den Weg gebracht und seitdem durch zahlreiche Veranstaltungen mit medialer Begleitung öffentlich bekannt gemacht wurde. Mit der Geschäftsführerin des Vereins, Frau Dr. Susanne Urban, haben wir darüber gesprochen.
Interview: Hans Berkessel | Juli 2020
Zur Person
Dr. Susanne Urban promovierte 2000 am Moses-Mendelssohn-Zentrum an der Universität Potsdam zu Abwehr von Antisemitismus durch deutsch-jüdische Verlage 1893–1938. Von 1990 bis 2004 und 2007 bis 2009 war sie freie Mitarbeiterin des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. 1994 bis 2004 war sie Mitarbeiterin und Redakteurin der Zeitschrift TRIBÜNE. 2004 wurde sie Fellow Researcher des International Institute for Holocaust Research in Yad Vashem/Jerusalem. 2004 bis 2009 folgte hier eine Anstellung als Mitarbeiterin. Von 2009 bis 2015 war Dr. Susanne Urban Leiterin der Abteilung Forschung und Bildung im International Tracing Service Bad Arolsen. Seit November 2015 ist sie Geschäftsführerin des SchUM-Städte Speyer, Worms, Mainz e. V.
Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Displaced Persons, Kind-Überlebende, jüdische Räume und deutsche Erinnerung. Zuletzt erschien von ihr: „Mein einziges Dokument ist die Nummer auf der Hand …“ Aussagen Überlebender der NS-Verfolgung im International Tracing Service (Berlin 2018), womit sie zu den Finalist*innen des Yad Vashem Buchpreises 2019 gehörte.
Frau Dr. Urban, können Sie kurz Ihren Weg zum SchUM-Stätten-Projekt und zur Übernahme Ihrer Funktion als Geschäftsführerin skizzieren?
Gehen wir zurück ins Jahr 1990 – seinerzeit begann ich als Guide im Jüdischen Museum Frankfurt zu arbeiten. Im Laufe der Jahre erweiterte ich mein thematisches Spektrum immer weiter, zugleich publizierte ich journalistisch und wissenschaftlich. Als ich promovierte, hatte ich mich bereits durch viele Jahrhunderte deutsch-jüdischer Geschichte bewegt. Nun folgte das Kuratieren von Ausstellungen, weitere publizistische Tätigkeiten. Schließlich ging ich nach Yad Vashem in Israel. Mein Schwerpunkt hatte sich immer stärker auf die Shoah und die unmittelbare Nachkriegszeit verlagert. Und weil ich Herausforderungen liebe, habe ich Yad Vashem 2009 – wenn auch mit Tränen in den Augen – verlassen, um dem gerade erst geöffneten International Tracing Service (heute Arolsen Archives) meine Expertise zur Verfügung zu stellen. Dort baute ich die Forschungs- und Bildungsabteilung auf. Spannende Jahre! Als ich 2015 die Anzeige des SchUM-Städte e. V. las, dachte ich: oh ja, Weltkulturerbe, deutsch-jüdische Geschichte über mehr als 900 Jahre und eine neue Herausforderung. Ich habe mich seinerzeit gefreut, dass ich aus mehr als 40 Bewerbungen gewählt wurde. Und es ist wunderbar, in dem großen Team aus Land, zuständigem Ministerium, Städten, jüdischem Landesverband und jüdischen Gemeinden zu agieren, zu lernen, zu arbeiten und gemeinsam voranzugehen Richtung Welterbe.
Der Weg des Antrages zum Weltkulturerbe ist ein langer. Bitte stellen Sie die Phasen des Welterbe-Antrags für die SchUM-Stätten und den gegenwärtigen Stand des Projektes dar.
Das mache ich am besten in Schlagworten: 2004 sprach der damalige Oberbürgermeister der Stadt Worms, Michael Kissel, mit der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Mainz/Worms, Stella Schindler-Siegreich, und einem Vertreter des Vereins „Warmaisa“. Heraus kam die Idee: SchUM muss Welterbe werden! Wobei ich hier einhaken möchte: SchUM wird in der jüdischen Welt seit Jahrhunderten von Generation zu Generation tradiert, wird seit Jahrhunderten als Vorbild anerkannt und ist hier bereits längst ein Welterbe. Jedenfalls schlug Michael Kissel dem Land Rheinland-Pfalz vor, für die SchUM-Stätten Speyer, Worms und Mainz die Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste zu betreiben. Zwei Jahre später nahm der damalige Ministerpräsident Kurt Beck das Vorhaben in die Regierungserklärung auf – seitdem haben sich alle Ministerpräsident*innen und Koalitionen dafür ausgesprochen und das Vorhaben unterstützt. Nach ersten Vorarbeiten ging 2012 der Antrag des Landes Rheinland-Pfalz an die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK), die SchUM-Stätten in die deutsche Vorschlagsliste an die UNESCO aufzunehmen. Noch zwei Jahre später haben die SchUM-Stätten Speyer, Worms und Mainz Platz 5 auf der an die UNESCO übermittelten sogenannten Tentativliste eingenommen. Nun hieß es: los geht’s! 2016 begannen die intensive Schreibarbeit und parallel noch immer kunsthistorische und historische Forschungen für den Antrag an die UNESCO. Forschung, Wissenschaft, Denkmalpflege, Vermittlung, Bildung, Maßnahmen zu Erhalt oder Aspekte der Sicherheit, Tourismus, Monitoring – alles muss zusammengetragen werden. Ein Antrag an die UNESCO umfasst das Nominierungsdossier und den Managementplan sowie diverse Anhänge. Es müssen bestimmte Kriterien erfüllt und die Einzigartigkeit sowie die Authentizität beschrieben, Vergleiche mit anderen Stätten angestellt werden und und und.
Im Januar 2020 hat das zuständige Ministerium, das mit außerordentlichem Engagement agierte und in dem alle Fäden zusammenliefen, den Antrag in Paris überreicht. Im Sommer 2021 werden wir die Entscheidung erfahren. Wir sind zuversichtlich! SchUM ist einmalig und herausragend!
Worin bestehen für Sie die wichtigsten Ziele, Inhalte und möglicherweise nachhaltigsten Folgen des Antrags zur Aufnahme in das UNESCO-Welterbe der SchUM-Stätten?
Im Rahmen der UNESCO: ewigen Schutz und Erhalt sichern. Die SchUM-Stätten nachhaltig, sensibel und adäquat Menschen zugänglich zu machen, digital und visuell öffnen und Menschen aus allen Kulturen vor Augen führen, wie innovativ, modern und prägend SchUM war und ist. Zeigen, dass Frauen in SchUM anerkannt waren. Unterstreichen, wie lebendig die in SchUM entwickelten Gedanken sind. Bildung, Vermittlung, Interpretation und Präsentation sind, neben den erhaltenden Maßnahmen an und für die Monumente, extrem wichtig. Also: nachhaltigen Tourismus fördern und dafür sorgen, dass der außergewöhnliche universelle Wert nicht beeinträchtigt wird. Die Städte Speyer, Worms und Mainz sowie die Jüdische Gemeinde Mainz als Eigentümerin der Monumente in Mainz und Worms arbeiten dafür eng zusammen, denn nur gemeinsam sind sie SchUM! Auch das ist Ausdruck des Welterbe-Gedankens: zusammenarbeiten, über Institutionen, Ämter und alle Grenzen hinweg. Also Respekt und Offenheit als Koordinaten.
Die Geschäfts- und damit Ihre Arbeitsstelle sind in Worms angesiedelt. Gibt es dafür einen besonderen Grund?
Als die Geschäftsstelle eingerichtet wurde, war Oberbürgermeister Kissel Vorstandsvorsitzender des SchUM-Städte e. V. Außerdem liegt Worms in der Mitte der drei Städte.
Für mich persönlich ist es schön, in dem Gebäude am Synagogenplatz zu sein und täglich auf die Synagoge, die Raschi-Statue und die Raschi-Jeschiwa zu blicken. Ich höre die Besucher*innen, sehe Tourist*innen, sehe jüdische Gruppen oder Individualtourist*innen, die entzückt und begeistert sind, in Warmaisa zu sein. Einmal waren jüdische Mädchen da, die mit einem Kommentar von Raschi in der Hand im Synagogengarten saßen und diskutierten. Oder ich führte Prof. Konrad Kwiet aus Australien durch die Synagoge, er staunte, sah nach oben und meinte nur: „Marvellous, liebe Susanne, so wunderschön.“ Aber ich würde genauso begeistert sein, wenn ich in Speyer im Judenhof oder in Mainz z. B. nahe der Neuen Synagoge mein Büro hätte.
Worin bestehen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit? Wie kann man sich einen typischen Tagesablauf vorstellen?
Nun, ich bin oft recht früh im Büro. Eine Routine gibt es nicht. Jeder Tag ist anders. In 2018 und 2019 waren es Wochen und Monate intensiver Abstimmungsarbeit am Managementplan, der sehr stark vom SchUM-Städte e. V. verantwortet wurde, das heißt Schutz, Erhalt, Management der Stätten. Zwischendrin Ideen für Veranstaltungen, deren Organisation, aber auch Angebote einholen für Gestaltung oder Merchandising. Immer wieder Abstimmungen mit dem siebenköpfigen Vorstand und den städtischen Koordinatoren in Sachen SchUM. Die Website muss gepflegt werden. Dann eine Ausstellung, die kuratiert werden will. Oder Vorträge vorbereiten, und dabei nicht jedes Mal dieselbe Vorlage verwenden, sondern immer wieder Neues berichten! Fördermitglieder betreuen. Buchhaltung. Also ist jeder Tag abwechslungsreich, bunt, vielfältig, kommunikativ.
Welche Bedeutung und welchen Reiz bietet das Projekt aus Ihrer Sicht insbesondere für junge Menschen?
SchUM entdecken, sage ich nur … So heißt auch Unterrichtsmaterial, das wir mit einem Gymnasium aus Ingolstadt erarbeitet haben. Darin zeigte sich: SchUM ist weit über Rheinland-Pfalz hinaus für junge Menschen spannend, wenn man sie selbst auf die Reise schickt, sie entdecken und Fragen stellen dürfen.
Fotos, Gebäudeteile, einzelne Grabsteine, Funktionalitäten, die unbekannt sind – wie ein Ritualbad – außerdem Biografien, Geschichten, Wundergeschichten, Überlieferungen von weisen Frauen und Männern, die Reaktion auf Verfolgung und Kreuzzüge, der Golem und die Spiegelung von knapp 1000 Jahren Geschichte in der Wormser Synagoge – all das fasziniert junge Menschen.
So verweben sich Monumente und Geschichten in einzigartiger Weise. Sie lernen auch etwas über Handwerk, über Steinmetze oder, mit Blick auf die Friedhöfe in Worms und Mainz, über die heutigen Anforderungen und die Balance zwischen Halacha, also religionsgesetzlichen Anforderungen, und Denkmalpflege beziehungsweise Restaurierung. Darin spiegelt sich auch: es braucht Kommunikation. Menschen sollten einander zuhören, um Bedarfe und Wünsche des anderen zu verstehen.
Im Januar dieses Jahres wurde der Welterbe-Antrag von Ministerpräsidentin Malu Dreyer unterzeichnet und bei der UNESCO-Kommission in Paris eingereicht. Was geschieht nun mit den SchUM-Stätten?
Wir sind optimistisch, wie schon gesagt.
Die SchUM-Stätten sind Welterbe, jüdisches Erbe, spiegeln die hellsten und dunkelsten Zeiten in Aschkenas und Deutschland. Sie und ihre Architektur, die Traditionen, Gebete und Gesänge sind verankert in jüdischen Gemeinden in der Welt. Das Land, die Kommunen, Wissenschaft und Forschung, Literatur und Kunst reflektieren dieses jüdische Erbe und nehmen sich des Erbes sensibel an. Sobald der UNESCO-Welterbetitel als Sahnehäubchen für die SchUM-Stätten draufkommt, werden diese einzigartigen, herausragenden jüdischen Räume einen angemessenen und gebührenden Platz einnehmen. Die SchUM-Stätten neben dem Taj Mahal, dem Speyrer Dom, dem Ayers Rock und Prag oder Krakau.