Singleview: Haus des Erinnerns (Nachberichte)
Von Angelika Arenz-Morch
Angelika Arenz-Morch, stellvertretende Leiterin des Gedenkreferates der Landeszentrale für politische Bildung und stellvertretende Vorsitzende der Stiftung Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz stellt bei der Begrüßung auch die Ziele der Stiftung vor. Das „Haus des Erinnerns sei ein ganz besonderer Ort, der als Gedenkort, zurückschaue in die Vergangenheit.
Gleichzeitig ist es ein Ort der Begegnung, der in die Zukunft blicke und das Wissen um die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und die Erinnerung an die Opfer mit dem Streiten für Demokratie und Akzeptanz verbinde. „Damit gibt es“, so Frau Arenz-Morch, „für die heutige Vortragsveranstaltung, zu der die Landeszentrale für politische Bildung, die Stiftung Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz, der Förderverein Projekt Osthofen und der Verein für Sozialgeschichte Mainz eingeladen haben, kaum einen geeigneteren Ort, um sich mit einem der Schlüsselereignisse der deutschen Geschichte des 20.Jahrhunderts, mit dem Attentat und dem Umsturzversuch des „20. Juli 1944“ auseinanderzusetzen.“
Der Wiesbadener Widerstandsforscher Dr. Axel Ulrich führt fulminant und kenntnisreich in das Thema des Abends ein. Schon zu Beginn macht er keinen Hehl aus seiner Bewunderung für die Arbeit von Linda von Keyserlingk-Rehbein. Ihr nun vorliegendes Buch sei das Beste, was er zu diesem Thema bislang gelesen habe. Sie belege anschaulich die Kernthese, wonach es sich bei den Attentätern keineswegs nur um eine kleine Gruppe gehandelt habe, sondern um ein breites Netzwerk aus allen Kreisen der Bevölkerung. Ausgehend von der verschlüsselten Korrespondenz Hermann Kaisers vom Stab des Chefs der Heeresrüstung und Befehlshabers des Ersatzheeres, breitet Herr Ulrich detailliert die Strukturen des maßgeblich vom vormaligen hessischen Innenminister und Gewerkschaftsführer Wilhelm Leuschner geknüpften zivilen Vertrauensleutenetzwerks aus. Gleichzeitig veranschaulicht er das hohe Maß an Konspiration und Geschicklichkeit, das den Akteuren abverlangt wurde, um Kontakte mit Gleichgesinnten aufzunehmen und Informationen auszutauschen. Nur so sei es möglich gewesen, jahrelang so viele unterschiedliche Personen in das Netzwerk einzubinden, ohne dass die Umsturzpläne im Vorfeld aufgedeckt werden konnten.
Damit leitete er unmittelbar über zum Vortrag von Frau Keyserlingk-Rehbein, die in der vorgelegten Analyse zum „20. Juli“ anhand zahlreicher Netzwerkvisualisierungen aufzeigt, was die NS-Ermittler tatsächlich über das große und komplexe zivile und militärische Netzwerk vom „20. Juli 1944“ wussten. Sie beklagt, dass der Widerstand des 20. Juli bis heute als Tat einzelner meist konservativer adliger Militärangehöriger dargestellt werde, mit einem Hauptakteur, nämlich Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Hier wirke die von Adolf Hitler verbreitete Mär von einer „ganz kleinen Clique“ bis heute nach. Trotz der umfangreichen Forschungsliteratur gäbe es noch immer Forschungsdesiderate hinsichtlich einzelner Biographien, insbesondere fehle es aber an Forschungen, die sich mit der Struktur dieses Widerstands befassen. Obwohl in der vorliegenden Literatur immer wieder vom „Netzwerk“ oder von einem „Netz“ gesprochen wird, wurde bislang der Begriff weder hinreichend differenziert noch das Netzwerk des 20. Juli eingehend analysiert. Das genau sei ihr Ansatz, wobei ihr im Verlauf ihrer zehnjährigen Forschung zu diesem Thema klar geworden sei, dass die Aufdeckung des gesamten Netzwerkes nicht von einer Person geleistet werden könne und viele Akteurinnen und Akteure sicher nicht mehr ermittelt werden könnten.
Bereits die Auswertung der Ermittlungsberichte, der Vernehmungsniederschriften, der Prozessunterlagen und der Personalakten ergaben, dass insgesamt 132 Personen von den Ermittlern als Beteiligte des Umsturzversuches angesehen wurden. Exemplarisch bezog von Keyserlingk noch Aufzeichnungen von Ulrich von Hassell, Helmuth von Moltke und Hermann Kaiser in die Analyse ein. Daraus ergaben sich viele weitere Kontakte zu Personen, die nicht ins Visier der NS-Verfolger geraten waren. Die angewandte Methodik der Netzwerkanalyse, die aus den eingegebenen Daten ein visualisiertes Netzwerk generiert und dabei die Personen entsprechend der Intensität und der Vielfalt der Kontakte anordnet, zeigt eine von der herkömmlichen Darstellung des 20. Juli abweichende Bedeutung einzelner Akteure für den Umsturzversuch. Fazit des Abends war die allgemeine Erkenntnis, dass mit der nun vorliegenden Studie neue Maßstäbe für die historische Forschung zum 20. Juli gesetzt, zugleich aber auch der noch zu leistende Forschungsbedarf deutlich wurden. Die Arbeit von Frau Keyserlingk-Rehbein enthält dafür etliche Hinweise, insbesondere zu den zivilen Strukturen des 20. Juli. Das Buch und die Vortragsveranstaltung sollen ausdrücklich zu weiteren regionalen Studien anregen.
Eine Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung, des Förderverein Projekt Osthofen und der Stiftung Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz
Linda von Keyserlingk-Rehbein: Nur eine »ganz kleine Clique«? Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944. Schriftenreihe der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. 707 Seiten, 90 Abb., 158×235 mm, teils farbige Abbildungen. November 2018. ISBN 978-3-86732-303-1
Preis Buch 34,90 € / eBook 28,– €