Literarisch ist sie unbestritten eine Autorin von Weltrang, ihre politische Haltung hingegen war in der Bundesrepublik und ihrer Heimatstadt Mainz nie unumstritten und bot Zündstoff für Diskussionen: Anna Seghers.
Geboren wurde die Dichterin im Jahr 1900 als Netty Reiling in eine angesehene jüdische Familie in Mainz, wo sie auch aufwuchs. Nach einem Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie in Köln und Heidelberg, avancierte sie ab Mitte der 1920er Jahre in Berlin zur hoffnungsvollen jungen Schriftstellerin und bekam sehr früh den renommierten Kleist-Preis. Als Kommunistin und Jüdin von den Nationalsozialisten verfolgt, ging die Schriftstellerin Anfang der 1930er Jahre mit ihrer Familie zunächst nach Frankreich, dann nach Mexiko ins Exil. Nach dem Krieg ließ sie sich in Ostberlin nieder, wurde Mitglied der SED und stieg zu einer populären und vielfach geehrten Schriftstellerin der DDR auf.
Am 17. November 2022 zeigten wir im Rahmen der Jüdischen SchUM-Kulturtage im Mainzer Synagogenzentrum den Film „Kein Transit ins gelobte Land – Anna Seghers aus Mainz“. Der halbstündige Film von Andreas Berg, der am Sonntag, dem 30. Mai 2020 in der Reihe „Bekannt im Land“ auf SWR 3 erst ausgestrahlt wurde, widmet sich der Person und dem Werk von Anna Seghers. Zu Wort kommen neben dem Sohn Dr. Pierre Radvanyi, Anja Kupfer (vom Anna-Seghers-Museum in Berlin), Hans Berkessel (Mitgründer der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V.) auch Dr. Carsten Jakobi, Mitherausgeber der Werkausgabe an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, und die Lektorin Nele Holdack vom Aufbau Verlag in Berlin. Auf der Suche nach der Anna Seghers abseits aller Klischees und Pauschalurteile, versucht das filmische Porträt einer der bedeutendsten deutschsprachigen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts mit ihrem humanistischen Vermächtnis und in ihren Widersprüchen gerecht zu werden.
Im Anschluss an die Filmvorführung fand eine Podiumsdiskussion unter der Moderation unseres Stiftungsvorsitzenden Hans Berkessel zum Thema „Anna Seghers und die DDR“ statt. Neben Andreas Berg diskutierte hier Dr. Jörg Bilke mit. Dr. Jörg Bilke, damals Germanistik-Student, der über das Frühwerk von Anna Seghers forschte, fuhr am 6. September 1961 mit dem Motorrad nach Leipzig zur Buchmesse und besuchte den berühmten Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Hans Mayer zu einem zweistündigen Gespräch. Am 9. September wurde er von der Staatssicherheit auf dem Karl-Marx-Platz verhaftet und später vom Bezirksgericht Leipzig wegen „staatsgefährdender Hetze“ zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Spätherbst 1962, als Bilke schon ein Vierteljahr im Zuchthaus Waldheim saß, traf Hans Mayer auf den Dornburger Schlössern bei Weimar Anna Seghers und bat sie, sich für seine Freilassung einzusetzen. Sie rief dann Otto Gotsche, den Sekretär des Staatsrats, an und bat um ein Gespräch mit der Staatssicherheit. Am 4. Dezember 1962 erschienen drei MfS-Offiziere bei Anna Seghers. Das Protokoll dieses Gesprächs wurde Jörg Bilke erst vor kurzem von der Gauck-Behörde in Berlin zugesandt …
Auch die sich anschließende Diskussion mit dem Publikum zeigte einmal mehr, wie schwierig es ist, Anna Seghers gerecht zu werden und über sie abseits bestehender Klischees zu sprechen. So meldete sich auch ein ehemaliger DDR-Bürger zu Wort, der selbst Opfer der SED-Diktatur geworden war, und machte deutlich, dass ihn eine Ehrung der Person Anna Seghers schmerze. Was sich diesem Statement anschloss, war eine lebhafte Diskussion über die streitbare Schriftstellerin Anna Seghers, über Täterschaft und Mittäterschaft in der DDR, über die Rolle des Judentums in ihren Werken, aber auch über die besonderen Figuren, die Anna Seghers in ihren Erzählungen schuf.