Das diesjährige Sommerforum von Widen the Circle stand unter dem Thema „Globale Perspektiven auf Erinnerungsarbeit: Veränderungen begegnen“ und fand vom 9. bis 11. Juni in Berlin statt. Am Beginn stand ein informeller Austausch unter den aktiven Akteur*innen im Netzwerk von Widen the Circle.
Am Samstag, dem 10. Juni, begann dann das eigentliche Veranstaltungsprogramm. Dazu ging es an einen ganz besonderen Ort, ins „Refugio“ in Berlin-Neukölln. Dabei handelt es sich um ein gemeinnütziges Projekt, bei dem sich alles um die Gemeinschaft dreht. Das Haus, das auch als Veranstaltungsort genutzt werden kann, ist zugleich ein Zuhause für etwa 35 Menschen, von denen circa die Hälfte nach Deutschland gekommen ist, um hier Asyl zu suchen. Daneben ist das „Refugio“ ein Zentrum für Kultur, in dem Künstler*innen arbeiten und monatlich verschiedene Veranstaltungen stattfinden. In diesen besonderen Ort bekamen wir zunächst durch einen Rundgang einen genaueren Einblick.
Anschließend lernten wir das Jüdische Zentrum Synagoge Fränkelufer kennen. Einer der Initiatoren Dekel Perez stellte im Gespräch die Synagoge und das heutige jüdische Leben in dieser Gemeinde vor. Gebaut wurde die Synagoge als eine der größten der Stadt von 1913 bis 1916. Sie bot jeweils 1.000 Männern und Frauen Platz. Geplant wurde sie ursprünglich als liberale Synagoge, letztlich aufgrund der Vielzahl an traditionellen und orthodoxen Jüdinnen*Juden als orthodoxe Synagoge eröffnet. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November wurde die Synagoge und insbesondere die Einrichtung stark verwüstet. Nationalsozialisten verbrannten im Innenraum die Torarollen und andere Kultgegenstände. Auf ein in Brand setzen des gesamten Gebäudes verzichteten die Nationalsozialisten und ihre Anhänger*innen lediglich aufgrund der angrenzenden öffentlichen Schule. Durch Sprengbomben am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Gebäude jedoch fast komplett zerstört. Bereits zum jüdischen Neujahrsfest im September 1945 fanden in der dürftig wieder hergestellten Synagoge wieder Gottesdienste statt. Einen Wiederaufbau beabsichtigen damals weder die Stadt Berlin noch die wenigen zurückgekehrten Gemeindemitglieder. 1945 bestand die Gemeinde aus etwa 45 Mitgliedern, darunter Überlebende der Shoah und Juden aus den Armeen der Alliierten.
Dekel Perez schilderte, wie bei der Hundertjahrfeier der Synagoge im Jahr 2016 Diskussionen darüber aufkamen, was an diesem Ort künftig geschehen soll. Schnell war klar, dass man hier die Geschichte der Migration zeigen möchte. So handelt es sich zwar um eine aschkenasische Synagoge, die aber stets auch andere Perspektiven in ihre Arbeit einbindet. So findet man in der Gemeinde am Fränkelufer u.a. auch Einflüsse aus dem arabischen Raum. Das Gespräch mit Dekel Perez zeigte, dass es heute viel mehr um das kulturelle und soziale Leben geht und weniger um das religiöse Leben. Noch in diesem Jahr wird es eine Ausschreibung zum Wiederaufbau der Synagoge geben. Dabei sei es besonders wichtig, den Bedürfnissen der Jüdischen Gemeinde gerecht zu werden. So brauche man heute keinen Gebetsaal für über 1.000 Menschen mehr, sondern ein Communitycenter, das das aktuelle jüdische Leben zeigt mit Kita, Gemeinschaftsräumen, Bildungsräumen und öffentlichen Veranstaltungsräumen.
Während eines Picknicks im Böcklerpark hatte die Gruppe die Möglichkeit zum Austausch mit Nickolai Todorov, der ebenfalls Mitglied der Jüdischen Gemeinde am Fränkelufer ist. Auch im Gespräch mit ihm ging es darum, was aktuell jüdisches Leben in Berlin ausmacht. Anschließend ging es auf einen Rundgang durch den Stadtteil Kreuzberg. Stadtführerin Hilke Gerdes zeigte uns so den lebendigen Stadtteil, der von Diversität durchzogen ist und in dem einem Geschichte an nahezu jeder Ecke begegnet. Der Weg führte uns vorbei an ehemals wichtigen Orten jüdischen Lebens wie u.a. der Synagoge in der Dresdener Straße und einigen Stolpersteinen sowie Orten, an denen die Themen Migration und Gentrifizierung sichtbar werden.
Am Abend folgte im „Refugio“ eine Podiumsdiskussion zum Thema „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – Veränderungen von Narrativen in den USA und Deutschland“. Es diskutierten Lisa Bratton, Steve Murray und Veronika Nahm unter der Moderation von Marc Skirvsky.
Lisa Bratton, Professorin für Geschichte an der Tuskegee University in Alabama, erforscht vor allem die Sklaverei der Region. Sie berichtete sowohl von sehr gelungenen Orten der Erinnerungskultur als auch von Orten, an denen die Geschichte gar nicht sichtbar wird. So gäbe es an der University of South Carolina einen Friedhof für versklavte Menschen, dem keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt würde, man stattdessen darauf ein Stadion für Football gebaut hat. An der University of Virginia hingegen gäbe es ein beeindruckendes Monument, das an die versklavten Arbeiter*innen erinnert. Lisa Bratton berichtete daneben von sehr persönlichen Geschichten, so zum Beispiel von ihrer Verwandtschaft zu J. Rufus Bratton, der den Ku Klux Klan nach South Carolina gebracht haben soll. Heute sagt Lisa Bratton, sei ihre Arbeit ihre Passion; sie sei die einzige Person, von der sie wisse, dass sie auf die Plantage zurückkehren kann, auf der gleich beide Teile ihrer Familie versklavt worden waren.
Steve Murray, Leiter des Alabama Department of Archives and History, machte deutlich, dass das Department in seiner Geschichte selbst rassistische Diskriminierung unterstützt habe. Es sei immens wichtig, dass man sich selbst und seine eigene Arbeit stets beobachtet, um eine inklusive Organisation aufbauen und sich mit Geschichte kritisch auseinandersetzen zu können. So sei man beispielsweise am Department dazu übergegangen von Rassismus betroffene Personen häufiger in die Arbeit einzubinden und den „Ankauf“ von Quellen und Dokumenten kritisch zu reflektieren.
Veronika Nahm, Direktorin des Anne Frank Zentrums in Berlin, weist daraufhin, dass man dem Prinzip der Peer-Education treu geblieben sei. Es sei wichtig, durch Kinder jeweils eigene Geschichten entstehen zu lassen, in denen sie ihre Perspektiven einbringen und andere Fragen stellen können. Geändert habe man im Anne Frank Zentrum die Konzeption von Ausstellungen. Während man noch vor einigen Jahren Ausstellungen hatte, in denen NS-Propagandamaterial gezeigt wurde, das antisemitische Stereotype reproduzieren könne, verzichte man heute darauf komplett. Stattdessen binde man häufiger Aussagen jüdischer Menschen über die Wirkungsmechanismen und die Folgen dieser Propagandamaterialien ein.
Bei einem gemeinsamen Abendessen wurde noch lange über die Fragen des Tages diskutiert. Besonders der Austausch zwischen Amerikaner*innen und Deutschen gab die Möglichkeit zu neuen Perspektiven.
Am Sonntag, dem 11. Juni, folgten Musik, Vorträge und Workshops, die die Themen des Vortages noch vertieften. Den Beginn bildete eine Musikperformance von Evan Milligan, Amanda Becker und Béla Meinberg. Sie nutzen Musik, um auf Themen wie Marginalisierung und Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. So erklang unter anderem das Gedicht „grenzenlos und unverschämt“ von May Ayim.
Im Anschluss fanden zeitgleich drei Workshops/Podiumsdiskussionen statt. Wir folgten dabei dem Gespräch zwischen Amy Spitalnick und Anetta Kahane. Amy Spitalnick ist Enkelin Holocaustüberlebender, die im Zuge des Sommerforums das erste Mal in Deutschland war. Zuletzt war sie Geschäftsführerin der Organisation „Integrity First for America“, die ihre bahnbrechende Klage gegen Neonazis und weiße Rassist*innen, die für die rechtsextreme Gewalt in Charlottesville 2017 verantwortlich waren, gewonnen hat. Anschließend übernahm sie die Geschäftsführung des Jewish Council for Public Affairs. Gleich zu Beginn ihres Gesprächs machte sie deutlich, dass die Reise nach Deutschland für sie auch eine Art Spurensuche sei.
Anetta Kahane hat als Gründerin und ehemalige Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung maßgeblich politische und zivilgesellschaftliche Bemühungen im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus vorangetrieben. Im Gespräch mit Amy Spitalnick über die Frage, wieso es so zentral ist, sich mit Antisemitismus zu beschäftigen, führt Anetta Kahane aus, dass Antisemitismus wie ein Schlüssel fungiere. Sobald man Antisemitismus betrachte, gäbe sich eine Fülle weiterer antidemokratischer, menschenverachtender Stimmen zu erkennen. Antisemitismus zu betrachten, zu erforschen, sei demnach eine zentrale Aufgabe und dies eben nicht, weil die Juden*Jüdinnen wichtiger seien als andere, was man ihr gerne einmal vorwerfe.
Amy Spitalnick ergänzt, dass nicht die Täter*innen mit geschlossenen Weltbildern so gefährlich seien, sondern vor allem, dass Verschwörungserzählungen u.a. durch Politiker*innen, aber auch durch Medien normalisiert werden. Als Teil eines Runden Tisches im Weißen Haus arbeitet sie an einem Report mit, der erstmals das Thema Antisemitismus beleuchtete. In der Arbeit sei ihr einmal mehr bewusst geworden, dass der Einsatz für die Sicherheit der Jüdinnen*Juden, Sicherheit für viele weitere Gruppen bedeute. Auch sie bekräftigt, dass Antisemitismus eine sehr starke Beziehung zu vielen weiteren antidemokratischen Einstellungen bilde. Als man sie fragte, ob sie an der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen von Charlottesville mitarbeiten wollte, hätte es für sie keine Wahl gegeben, sie habe sich verantwortlich gefühlt, dies tun zu müssen – gerade aufgrund der Präsenz ihrer eigenen Familiengeschichte.
Anetta Kahane schließt die Diskussion mit den Worten, dass unser aller Arbeit eine never ending story sei.
Im Anschluss an die verschiedenen Workshops fand ein Gespräch zwischen Dr. Dave Tell und Angelika Rieber unter der Moderation von Dr. Karlos Hill statt. Darin sprachen sie vor allem über regionale Zugänge zu Geschichte. Gerade regionale oder aber biografische Zugänge seien zentral in der aktuellen Erinnerungsarbeit. Dr. Dave Tell, Autor von „Remembering Emmett Till“ sei bei seiner Arbeit zunächst nicht nach Mississippi gereist, an den Ort, an dem Emmett Till 1955 ermordet wurde. Er habe zu Beginn seiner Arbeit keinen Kontakt zur Familie von Emmett Till gesucht. Als Historiker und Wissenschaftler habe er immer gedacht, es käme darauf an, möglichst viel Fachliteratur zu lesen, um selbst einen Text zu verfassen. Erst später entstand auf das Anraten einiger anderer Personen hin, der Kontakt zur Familie Emmett Tills, verbunden mit einer Reise nach Mississippi. Diese Erfahrungen haben Dr. Dave Tell gezeigt, wie zentral ist, betroffene Perspektiven in die eigene Arbeit einzubinden. Auch Angelika Rieber berichtet darüber, wie wichtig der Kontakt zu Zeitzeug*innen beim Projekt jüdisches Leben Frankfurt sei. Sowohl in den USA als auch in Deutschland käme es demnach auf die lokale und biografische Auseinandersetzung mit Geschichte an, die immer auch die Perspektive der jeweils betroffenen Personen einbindet. Ein Ansatz, dem wir auch im Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz folgen.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen gab es zum Abschluss des Sommerforums noch die Möglichkeit der kollegialen Beratung. Hier wurde in drei Kleingruppen an unterschiedlichen konkreten Fällen aus der Erinnerungsarbeit gearbeitet. Die Expertise so vieler Aktiver aus der Erinnerungsarbeit zu einem konkreten Fall zu erhalten, war eine bereichernde Erfahrung.
Am Ende des Sommerforums 2023 steht fest, dass Widen the Circle ein hochinteressantes Netzwerk ist, bei dem ganz unterschiedliche Perspektiven und Expertisen zusammenkommen. Wir sind sehr dankbar, dass wir Teil davon sein dürfen!