Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte melden sich 20 Nachkommen der über 75 Jahre lang verleugneten KZ-Häftlinge in einem Sammelband zu Wort: „Die Nazis nannten sie ,Asoziale‘ und ,Berufsverbrecher‘. Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik“ (Campus). Die Autor*innen beschreiben darin die jeweilige Verfolgungsgeschichte ihrer Vorfahren, die mit dem grünen oder schwarzen Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern inhaftiert wurden und von denen die meisten das NS-Regime nicht überlebten und ermordet wurden.
Herausgegeben wird dieser Sammelband von Prof. Dr. Frank Nonnenmacher. Er ist emeritierter Professor für politische Bildung an der Frankfurter Goethe-Universität und bereits vor zehn Jahren eine Doppelbiografie zu seinem Vater Gustav und dessen Bruder Ernst verfasst. Am 20. März gab Frank Nonnenmacher in unserem Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz Einblicke in die im Buch dargestellten Verfolgungsgeschichten sowie in den langen Weg zur Anerkennung für die Überlebenden.
In ihrer Begrüßung und Einführung hob Dr. Cornelia Dold hervor, wie wichtig es ist, die Erinnerung an die verschiedenen Opfer des NS-Regimes wachzuhalten. So sei es zentrales Anliegen des Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz, den Fokus immer wieder auf die unterschiedlichen Opfergruppen zu legen und so vor allem jene, die lange Zeit – und zum Teil noch bis heute – in den Hintergrund gerieten, dem Vergessen zu entreißen.
Anschließend stellte Prof. Dr. Frank Nonnenmacher zwei Biografien aus dem Sammelband genauer vor: Neben der seines Onkels auch die von Emil Baum. Das Schicksal Emil Baums, das in der Publikation von dessen Urenkel Daniel Engel geschildert wird, verdeutlicht die Verdrängung der eigenen Familiengeschichte, wie sie in vielen Haushalten im Nachkriegsdeutschland stattgefunden hatte. Emil Baum, dessen Mutter bereits verstarb als er erst sechs Jahre alt war, wechselte später häufig seinen Arbeitsplatz und geriet immer wieder in die Arbeitslosigkeit. Auch wenn Emil Baum nach der Hochzeit mit Ella Margareta Schanne und der Geburt der gemeinsamen Tochter Hildegard, einen beruflichen Neuanfang wagte, geriet die Familie immer wieder in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Um seine Familie ernähren zu können, beging er mehrere Diebstähle. 1936 wird er wegen „schwerem Diebstahl mit Rückfall“ zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Der Urenkel Daniel Engel fand bei seinen Recherchen heraus, dass Emil Baum mit dem schwarzen Winkel als sogenannter ‚Asozialer‘ im Konzentrationslager Mauthausen inhaftiert war. Er wurde wohl ein Opfer des nationalsozialistischen Programms „Vernichtung durch Arbeit“. Er starb am 11. Januar 1940, um 15:20 Uhr, im KZ Mauthausen angeblich an „Lungenentzündung und Herz-Kreislaufschwäche“, so eine Eintragung in einem der von der SS geführten Totenbücher, auf die Daniel Engel stieß. Sehr viel wahrscheinlich starb er wohl an Erschöpfung von der zu leistenden Arbeit im KZ Mauthausen.
Ernst Nonnenmacher, der Onkel Frank Nonnenmachers, war nicht mit dem schwarzen, sondern mit dem grünen Winkel der sogenannten ‚Berufsverbrecher‘ Häftling im KZ Flossenbürg. Auch er hatte einen Diebstahl begangen; aus Hunger klaute er bei einem Bäcker ein Brötchen und wurde inhaftiert. 1941 wurde er aus der Haft entlassen und unmittelbar zur Arbeit im Steinbruch in das KZ Flossenbürg deportiert. Frank Nonnenmacher führte aus, dass gerade die von den Nationalsozialisten als ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ bezeichneten Häftlinge gewinnbringend vernichtet werden sollten, sprich, dass das NS-Regime ihre Arbeitskraft ausnutzen wollte, bis sie vor Erschöpfung starben oder ermordet wurden. Ernst Nonnenmacher wurde von dort aus noch in das KZ Sachsenhausen verlegt, da bekannt war, dass er Korbflechten konnte. Später bezeichnete er dies als „lebensrettend“, da er dort in ein „gutes Kommando“ gekommen sei. Doch Frank Nonnenmacher schilderte nicht nur den Leidensweg seines Onkels bis zur Befreiung durch die Alliierten, sondern legte den Fokus auch auf die Nachkriegszeit. Die Opfergruppen der Schwarz- und Grünwinkligen bekam zunächst keinerlei Anerkennung als Opfer des Faschismus. So wirkte das durch die NS-Propaganda geprägte Bild dieser Menschen auch nach 1945 noch lange weiter: Sie galten weiterhin als „zu Recht“ von den Nationalsozialisten verfolgt. Die meisten Überlebenden dieser Opfergruppe schwiegen daher auch aus Scham lange Jahre über ihre Schicksale – auch in den eigenen Familien wurde oftmals nicht über die Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten gesprochen, so auch in der Familie Nonnenmacher.
Frank Nonnenmacher wies daher darauf hin, welch ein Meilenstein es sei, dass der Deutsche Bundestag diese Menschen 2020 als Opfer der NS-Diktatur anerkannte. Dadurch sei offiziell die so lange erkämpfte Anerkennung ausgesprochen worden. Doch auch wenn der Deutsche Bundestag 2020 eine Erklärung abgab, laut der diese Opfergruppe einen „angemessenen Platz im bundesweiten Erinnern“ bekommen solle, dass es Ausstellungen, Forschungsarbeiten u.a.m. geben solle, sei bislang nur eine erste Ausstellung in Arbeit. Dies zeige, dass man weiter laut bleiben müsse und daher habe er sich auch zu diesem Sammelband entschieden, in dem die Nachkommen der Verfolgten zu Wort kommen sollen.
Die hoch interessante Veranstaltung in unserem Haus mit einem zugleich informativen wie emotionalen Vortrag von Prof. Dr. Frank Nonnenmacher wurde leider nur von recht wenigen Menschen besucht – vielleicht ein trauriges Zeichen dafür, dass Opfergruppen, die im Zentrum des Abends standen, allzu oft in Vergessenheit geraten oder gar dafür, dass das seit der NS-Propaganda geprägte Bild der „kriminellen“ und somit zu Recht verfolgten Menschen bis heute fortwirkt.