Der dritte Band unserer Reihe „Erinnerungskultur und Demokratie“ spiegelt die aktuelle Debatte zur Erinnerungskultur wider. Diskutiert werden die neuen Herausforderungen des Umgangs mit NS-Verbrechen in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft mit unterschiedlichen historischen Narrativen und Gewalterfahrungen in den Herkunftsfamilien. Hinzu kommen Herausforderungen durch den demografisch begründeten Verlust der Zeitzeug*innen, die Infragestellung der bisher weithin konsensualen Erinnerungskultur durch rechtsextremistische und autoritär-antidemokratische Tendenzen bis hin zu gewaltsamen Angriffen insbesondere auf jüdische Einrichtungen und Gedenkstätten. Die Autor*innen zeigen zudem die Chancen und Grenzen neuer virtueller Formen der Vermittlung der NS- und Holocaust-Geschichte auf.
Thomas Lutz, langjähriger Leiter des Gedenkstättenreferates der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin und Herausgeber des GedenkstättenRundbriefs wirft in seinem Beitrag einen Blick zurück auf die mehr als 40jährige Geschichte der Gedenkstätten, auf die Schwierigkeiten des (ehrenamtlichen) Beginns, auf die Bedeutung der Begegnung und der langjährigen Verbindungen mit KZ-Überlebenden und auf den Wandel und die Weiterentwicklung der Gedenkstättenpädagogik unter Einschluss der immer wichtigeren Gegenwartsbezüge. Er setzt sich dabei kritisch mit den Chancen und Grenzen neuer digitaler Formen der Vermittlung auseinander.
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat im März 2020 im Landtag Rheinland-Pfalz unter dem Titel Erinnerungskultur heute – ein Auftrag für die Zukunft einen u. E. bemerkenswerten Vortrag gehalten, in dem er auf die Bedeutung der von mehreren Seiten infrage gestellten Kultur des Gedenkens und Erinnerns an die Opfer der Shoah, nicht nur für Existenz und Selbstverständnis der vielfältigen jüdischen Gemeinschaft, sondern auch als „Zeichen der demokratischen Reife“ eines Landes und seiner Bevölkerung verweist.
Walter Rummel und Thomas Wimmer stellen ein beispielhaftes und bundesweit wohl einmaliges Projekt eines historisch und quellenbasierten Moduls zur Polizeigeschichte in NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg in der Ausbildung der rheinland-pfälzischen Polizei vor.
Elke Gryglewski, langjährige Mitarbeiterin und Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz, heute Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsischen Gedenkstätten und Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, setzt sich auf der Grundlage eines 2019 im Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz gehaltenen Vortrags mit den Herausforderungen der Gedenkstättenbildungsarbeit in Zeiten zunehmender politischer Radikalisierung auseinander.
Henrik Drechsler, als Historiker und Pädagoge im Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz zurzeit vor allem mit der Begleitung der Gedenkstättenfahrten von Schulen aus ganz Rheinland-Pfalz in NS-Gedenkstätten befasst, stellt das beeindruckende Projekt „Lebensmelodien“ im Kontext einer Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz vor. Dabei konnten Schülerinnen des Landesmusikgymnasiums in Montabaur/Westerwald einen ganz eigenen künstlerisch-kreativen Zugang zu den NS-Verbrechen finden.
Diana Kail und Andreas Pflock, Mitarbeitende des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, zeigen in ihrem Beitrag, wie es begleitend zu einer Dauerausstellung mithilfe „biografischer Koffer“ möglich wird, die Lebenswege, Verfolgung, Deportation und das Überleben verfolgter Kinder und Jugendlicher aus Sinti- und Roma-Familien anschaulich zu erfahren.
Thomas Altmeyer, wissenschaftlicher Leiter des Studienkreises Deutscher Widerstand in Frankfurt/Main, zeigt am Beispiel der Geschichte des „Geschichtsortes Adlerwerke“, einer jungen, erst nach vielen Auseinandersetzungen errichteten Gedenk- und Bildungsstätte in Frankfurt auf, wie hier historische Forschung und multiperspektivische Betrachtung und Vermittlung der Themenkreise Fabrik, Zwangsarbeit und Konzentrationslager mithilfe von Ausstellung, interaktiven Führungen, Actionsbounds, biografischen Workshops und Projekttagen gelingen kann.
Mona Brandt, Games Entwicklerin und Lead Designerin beim Berliner Studio Paintbucket Games, weist in ihrem Beitrag über „Spielerisches Erinnern“ auf die Bedeutung von digitalen Spielen als Leitmedium des 21. Jahrhunderts hin. Sie zeigt auf, wie diese, entgegen der auf den ersten Blick berechtigten Skepsis zu deren Einsatz in der historisch-politischen Bildung, etwa durch die in Zusammenarbeit mit Gedenkstätten gezielt unter Einhaltung historisch-pädagogischer Standards entwickelten Videospiele als erinnerungskulturelles Medium genutzt werden können.
Cornelia Dold, Historikerin und Pädagogin, Leiterin im Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz, und Frank Teske, Historiker und stv. Leiter des Stadtarchivs Mainz, berichten in ihrem Beitrag, wie mithilfe einer Auswahl von Ausschnitten der von der Shoah Foundation erworbenen und entsprechend aufbereiteten 34 Videointerviews mit Mainzer Zeitzeug*innen ein authentischer Einblick in die Lebenssituation (junger) jüdischer Mainzer*innen vor und nach der ‚Machtübernahme‘ in der Zeit von 1933 bis 1938 vermittelt werden kann.
Barbara Trottnow, Filmemacherin aus Rheinhessen, mit Dokumentarfilmen für ZDF und ARD und inzwischen einer eigenen Filmfirma etabliert, skizziert in ihrem Beitrag Vorgeschichte, Inhalt und erinnerungskulturelles Potenzial ihres Films „Visiting the Past“ über die Spurensuche einer Zweitzeugin, der aus Essenheim bei Mainz stammenden Joan Salomon.
Hans Berkessel, Historiker und Pädagoge, Vorsitzender der Stiftung „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz“, macht in einem historischen Rückblick auf die zeithistorisch und erinnerungskulturell herausragende Bedeutung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965) aufmerksam. In einem Gespräch mit Peter E. Kalb, Bildungsreformer und -publizist und lebenslang für eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit engagiert, der als damals jugendlicher Betreuer der Opferzeugen zugleich einer der letzten lebenden Zeitzeugen des Prozesses ist, werden die Abläufe, die Atmosphäre, der Umgang mit und die traumatisierende Situation der KZ-Überlebenden sowie die Nachgeschichte der daraus resultierenden nachhaltigen z. T. freundschaftlichen Beziehungen und der einschneidenden Bedeutung für das eigene Leben des Betreuers in authentischer Weise deutlich.
Bernward Debus und Silke Schneider, Verleger und Geschäftsführerin des Frankfurter Wochenschau-Verlags, würdigen im Anschluss Leben und Werke ihres langjährigen Weggefährten und Freundes Peter E. Kalb.
Cornelia Dold beschreibt und wertschätzt im letzten Beitrag dieses Bandes die außergewöhnlichen Verdienste um die Erinnerungsarbeit des Pädagogen und Jugendbuch-Autors und langjährigen Kooperationspartners der Stiftung „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz“ Reiner Engelmann anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Mai 2023.
Berkessel, Hans/ Dold, Cornelia (Hrsg.): Erinnerungskultur im Wandel. Neue Herausforderungen und Wege des Lernens und Arbeitens in Gedenkstätten
ISBN 978-3-7344-1613-2
168 S., 18,90 €
Auch als E-Book erhältlich
Band 3 unserer Schriftenreihe kann über den Wochenschau Verlag hier bestellt werden.
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