Seit Anfang 2015 amtierte Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky in der Jüdischen Gemeinde Mainz. Zum 1. September verlässt er nun Mainz und kehrt in die Jüdische Gemeinde in Düsseldorf zurück. Wir sprachen mit ihm über seine Zeit als Rabbiner in Mainz und die dortige Gemeinde.
Interview: Dr. Cornelia Dold | Mai 2021
Aharon Ran Vernikovsky wurde 1972 in Israel bei Tel Aviv geboren und wuchs in Berlin auf. Er studierte Literaturwissenschaften, Politologie, Journalistik und Psychologie an der FU Berlin und an der Hebrew University Jerusalem. Darüber hinaus studierte er Judaistik und talmudische Studien an verschiedenen Jeshivot (Talmud-Hochschulen) in Israel.
Aharon Ran Vernikovsky war Rabbiner der Jüdischen Gemeinden Wuppertal, Düsseldorf und Mainz. 2021 kehrt er in die Jüdische Gemeinde Düsseldorf zurück.
Das Jahr 2021 wurde als Festjahr ausgerufen: „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Wie stehen Sie persönlich zu diesem Jahr, für das eigens ein Verein gegründet wurde, um unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten mit einer Vielzahl an Veranstaltungen jüdisches Leben sichtbarer zu machen und zugleich ein Zeichen gegen erstarkenden Antisemitismus zu setzen?
Ich hoffe doch sehr, dass der Grund für dieses Jubiläum nicht eine Zeichensetzung gegen erstarkenden Antisemitismus ist. Denn das würde ja bedeuten, dass die Förderung jüdischer Kultur in Deutschland ein Teilbereich der Gedenkkultur sein soll. Genau das würde ich mir für das Judentum in Deutschland nicht wünschen wollen. 1700 Jahre jüdisches Leben bedeutet für mich exakt das, was diese Zahl ausdrückt, nämlich, dass das Judentum ein fester Bestandteil deutsch-europäischer Geschichte ist. Das Judentum hat Deutschland von der Spätantike bis in die Moderne begleitet, mitgeprägt und wurde ebenso von der deutschen Geschichte geprägt. Das Judentum ist ein Glied im Körper der Geschichte Deutschlands und Europas.
Für die SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz könnte das Festjahr 2021 ein besonderes Jahr werden. Denn über den UNESCO-Weltkulturerbe-Antrag der SchUM-Städte soll noch in diesem Jahr entschieden werden. Welche Bedeutung hätte eine Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe aus Ihrer Sicht für die Jüdische Gemeinde Mainz?
Der Welterbe-Antrag wurde von Anfang an von der Jüdischen Gemeinde mitgetragen. Er steht im Zeichen eines Bekenntnisses zur jüdischen Geschichte als Kulturerbe. Die mittelalterlichen Monumente stellen die unglaubliche Historizität des SchUM-Judentums dar. Für die Jüdischen Gemeinden bedeutet das: Hier findet eine Aufwertung einer jüdischen Epoche statt, hier findet eine Aufwertung des kulturellen und theologischen Einflusses des Judentums in Deutschland statt.
Die Jüdische Gemeinde Mainz ist gerade seit den 1990er-Jahren immer größer geworden – insbesondere durch die Einwanderung von Jüdinnen*Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Wie sehen Sie Ihre Rolle als Rabbiner in dieser pluralistischen Gemeinde?
Das Judentum ist per Definition eine pluralistische Religion. Und das ist auch gut so. Die Rolle eines Rabbiners in einer vielfältigen Jüdischen Gemeinde besteht vor allem auch darin, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und ein mehrdimensionales kulturelles Verständis für die jüdischen und seelischen Belange der verschiedenen Gemeindemitglieder aufzuweisen. Je vielfältiger die Gemeinde ist, umso vielschichtiger muss ihr Rabbiner sein.
Wie schaffen Sie es, als Rabbiner eine Brücke zwischen den religiösen und sozialen Herausforderungen in der Jüdischen Gemeinde Mainz zu schlagen?
Indem ich darin keinen natürlichen Widerspruch sehe: Einem Mensch religiös zu helfen, bedeutet für mich, ihn erst einmal als soziales Wesen wahrzunehmen. Und umgekehrt: Jede soziale Hilfe, jede soziale Geste einem Mitmenschen gegenüber ist zugleich ein religiöses Gebot.
Sie werden die Jüdische Gemeinde Mainz noch im Jahr 2021 verlassen und wieder nach Düsseldorf zurückkehren. Wie sehen Sie die Zukunft jüdischer Gemeinden – im Besonderen der Jüdischen Gemeinde Mainz – und was wünschen Sie sich für die Zukunft jüdischen Lebens?
Die Zukunft der Jüdischen Gemeinden hat mit der Entwicklung der jüdischen Identitätsfrage zu tun. Sofern Jüdinnen und Juden bereit sind, eine lebendige jüdische Identität für sich zu beanspruchen, wird das Judentum in Deutschland eine gute Zukunft haben.
Die jüdische Identität besteht im Wesentlichen aus zwei Aspekten: Das Judentum als historisches Phänomen, als Schicksalsgemeinschaft, die es geschafft hat, weiterzubestehen, zu begreifen. Und das Judentum als Religion, als Glaubensgemeinschaft mit eigenen religiösen Riten, Glaubenssätzen und Traditionen zu verstehen.
2020 sollte eigentlich in einer großen Veranstaltung das zehnjährige Jubiläum der Neuen Synagoge in Mainz gefeiert werden – leider war dies aufgrund der Pandemie nicht möglich.
Welche Rolle spielt die symbolträchtige Neue Synagoge für die Jüdische Gemeinde Mainz und für die nicht-jüdische Stadtgesellschaft in Mainz?
Das Synagogenzentrum ist nach außen hin ein ästhetisches Vorzeigeobjekt, um die jüdische Community nach außen darzustellen. Ob diese symbolträchtige Architektur dem gerecht wird, soll im Auge des Betrachters liegen. Ich persönlich neige zu einer Architektur der Bescheidenheit. Sakralbauten sind in der Regel von einer gewissen Überdimensionierung geprägt: Das Kultische muss groß sein, emporragen und dominant sein. Dieser Architektur liegt ein hierarchisches Verständnis von Glaube und Kultus zugrunde.
Ganz ehrlich: Ich empfinde die Architektur des Synagogenzentrums als überdimensioniert, denn ich bin der Meinung, dass die Jüdische Gemeinde Mainz keine überdimensionierte Gemeinschaft ist. Wir sind in Wahrheit eine Gemeinde einfacher Menschen – mit teilweise schweren Schicksalsgeschichten.
Worin bestehen in Ihren Augen die größten Herausforderungen als Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Mainz, gerade um auch künftig ein aktives jüdisches Leben in Mainz zu stärken?
Die Herausforderung eines Rabbiners besteht darin, jüdische Werte und Lehren an den Mann – oder an die Frau – zu bringen. Dabei sollte ein Rabbiner zwei Fähigkeiten mitbringen: Die Technik, andere zu begeistern, also Kommunikationsskills. Die andere – und nicht weniger wichtige Fähigkeit: Realismus! Also die Fähigkeit, immer auch zu verstehen, wie schwer das ist, was er da will.
Wir vom Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz beteiligen uns mit unseren Angeboten an der aktiven Mainzer Erinnerungskultur, in der das Gedenken an die Shoah eine große Rolle spielt. Wie blicken Sie auf die Erinnerungskultur in der Stadt Mainz und welche Erwartungen haben Sie an sie? Welche Bedeutung haben dabei in Ihrer Wahrnehmung die Jüdischen Kulturtage Mainz?
Ich habe zum Thema Erinnerungskultur, wenn ich mal ganz ehrlich sein darf, ein sehr zwiespältiges Verhältnis: Auf der einen Seite kann Deutschland ohne Gedenkkultur politisch-moralisch gar nicht bestehen. Die Gesellschaft braucht das Gedenken, um ihre Demokratiefähigkeit immer wieder zu trainieren. Völlig verständlich! Auf der anderen Seite findet gerade dadurch eine Art Zweckentfremdung des Judentums statt. Jüdinnen und Juden wollen nicht zu lebenden Gedenkkerzen reduziert werden. Sie sind mehr als Objekte des Gedenkens und der Erinnerung.
Eine andere Sache, die mich stört: Die Gedenkkultur glaubt, dem Judentum einen Gefallen zu erweisen, wenn sie sich mit dem toten Judentum identitätspolitisch befasst. Dabei vergisst es, dass das lebende Judentum in Form eines lebendigen jüdischen Staates namens Israel mindestens die gleiche Solidarität und Unterstützung verdient. Der Staat Israel wurde erschaffen, damit ein Mechanismus da ist, der das, was in der Schoah geschehen ist, nie wieder zulässt. Israel ist die jüdische Lehre aus der Schoah. Wäre es also nicht sinnvoller, Zeit und Arbeit in die Stärkung Israels zu investieren, wenn man sich doch so sehr mit der Frage beschäftigt: Was können wir aus der Schoah lernen?
Seit 2015 waren Sie Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Mainz, nun kehren Sie nach Düsseldorf zurück. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf Ihre Zeit in der Landeshauptstadt Mainz und zugleich auf Ihre Zukunft in Düsseldorf, einer Gemeinde, die Sie ja bereits kennen?
Ich bin in Berlin aufgewachsen: Das ist ein regionaler Defekt für’s Leben. Denn außerhalb von Berlin erscheinen die deutschen Städte alle sehr ähnlich. Mainz ist eine sympathische Stadt am Rhein, und Düsseldorf ist auch eine sympathische Stadt am Rhein. Um die Frage dennoch zu beantworten: Mit Mainz verbinde ich eine gewisse Behaglichkeit, Gastfreundschaft und Transparenz. Mainz ist ja nicht wirklich schön. Aber Mainz hat eine schöne Transparenz. Düsseldorf ist die Stadt der Schönen und Reichen. Und da ich weder schön noch reich bin, werde ich mich dort bestimmt beliebt machen …
Auf offiziellen Homepage der Jüdischen Gemeinde Mainz finden sich weitere Informationen zur Gemeinde sowie aktuellen Terminen und Veranstaltungen.
Auf Regionalgeschichte.net finden sich zahlreiche Beiträge zur jüdischen Geschichte der Landeshauptstadt Mainz. Ein Überblicksartikel von Hedwig Brüchert über die vielfältige jüdische Geschichte der Stadt findet sich hier.