Der studierte Germanist, Historiker, Politikwissenschaftler und Publizist Hans Berkessel war bis 2015 Lehrer und Regionaler Fachberater Geschichte Rheinhessen. Seit 2018 ist er Vorsitzender der von ihm mitgegründeten Stiftung „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz“. Mit ihm sprechen wir über die Herausforderungen, Chancen und Risiken der Corona-Pandemie für unser Bildungssystem.
Interview: Dr. Cornelia Dold & Janika Schiffel | Juli 2020
Zur Person
Hans Berkessel war über 20 Jahre Lehrer und Fachberater Geschichte Rheinhessen. 13 Jahre lang leitete er ehrenamtlich den Demokratie-Tag Rheinland-Pfalz. Seit 2016 ist er freier Mitarbeiter am Institut für Geschichtliche Landeskunde (IGL) an der Universität Mainz und seit 2018 Vorsitzender der Stiftung „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz“.
Als Herausgeber und Autor hat er zahlreiche Aufsätze und didaktische Beiträge zur Kultur-, Sozial- und Zeitgeschichte, zur politischen Bildung und zur Schulentwicklung (Demokratiepädagogik) publiziert und ist Mitherausgeber, Autor und Redakteur der IGL-Reihen Beiträge zur Geschichte der Juden in Rheinland-Pfalz und Mainzer Beiträge zur Demokratiegeschichte, der Mainzer Geschichtsblätter und des Jahrbuchs für Demokratiepädagogik. 2016 wurde er für sein Engagement in der historisch-politischen Bildung und Demokratiepädagogik mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Sie haben selbst jahrelang als Geschichtslehrer sowie als regionaler Fachberater Geschichte gearbeitet und im Zuge dessen viele Entwicklungen im Schulbereich vorangetrieben. Nun ist durch die Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie das Bildungssystem vor besondere Herausforderungen gestellt. Welche Herausforderungen sind in Ihren Augen die größten?
Ich sehe nicht nur als Fachlehrer für Geschichte, Deutsch und Sozialkunde in der Sekundarstufe I und II, sondern vor allem als Pädagoge, der die Schulreform mitgestaltet hat, Probleme gleich auf mehreren Ebenen:
- Recht auf Bildung – Bildungsabschlüsse: Durch die Voll- oder Teilschließung von Schulen, den Wechsel von Präsenzunterricht und Homeschooling, konnten wesentliche Lerninhalte der einzelnen Fächer nicht vergleichbar vermittelt werden. Da das auch im kommenden Schuljahr mutmaßlich nicht sichergestellt werden kann, muss u. a. darauf seitens der Bildungsverwaltung durch Reduzierung der Lehr- und Bildungspläne und durch die Einstellung zusätzlicher Lehrkräfte zur Betreuung kleinerer Lerngruppen reagiert werden, damit ALLE Schüler*innen ihren angestrebten Bildungsabschluss erreichen können.
- Bildungsgerechtigkeit: Die bisherigen Erfahrungen mit digitalisierten Lernangeboten haben gezeigt, dass insbesondere an den Grundschulen und an den Sekundarschulen, die eine besonders heterogene Schülerschaft haben, viele Schüler*innen nicht erreicht wurden. Es muss durch die Bereitstellung von technischer Ausstattung (Tablets usw.) und durch besondere (Präsenz-) Betreuung von bildungsbenachteiligten Schüler*innen sichergestellt werden, dass die soziale Schere nicht noch weiter auseinander geht.
- Lehr- und Lernformen: Nach den bisherigen Erfahrungen besteht die Gefahr eines Rückfalls in überwiegend frontal gesteuerte Lernformen, alle interaktiven, kommunikativen, kleingruppen- oder projektorientierten Formate oder auch an das Verlassen der Schulen gebundene Nutzung außerschulischer Lernorte drohen verloren zu gehen. Daher ist dringend notwendig, den Schulen und Kollegien unverzüglich qualifizierte Fortbildungsangebote zu machen, die sie in die Lage versetzen, digitalbasierte, interaktive Lernformen zu entwickeln und einzusetzen.
Durch die Corona-Pandemie waren und sind die Schulen gezwungen, vermehrt auf digitale Angebote zu setzen. Inwiefern könnte die Corona-Pandemie eine Chance sein, die Digitalisierung im Bildungsbereich weiter voranzubringen?
Durch den Druck, den Unterricht in wesentlichen Teilen digital anzubieten, mussten sich alle an Schule Beteiligten „ehrlich“ machen und die Defizite im Blick auf technische Ausstattung wie auf didaktisch-methodisch gelungenen Umgang damit zur Kenntnis nehmen. Sicher gibt es im Land schon sehr gute Programme wie z. B. „Medienkompetenz macht Schule“, an denen aber immer nur wenige Schulen, Lehrer*innen und Schüler*innen beteiligt sind. Hier müssen wir in die „Breite“ kommen, d. h. an allen Schulen im Land muss eine entsprechende technische Ausstattung und deren personelle Betreuung (bisher meist nur wenige Abordnungsstunden von Lehrer*innen) bis hin zur flächendeckenden Fortbildung der Lehrkräfte und Trainings für Schüler*innen ermöglicht werden.
In den letzten Monaten wurde viel über die schrittweise Öffnung der Schulen sowie die Ausgestaltung des Unterrichts im digitalen Raum diskutiert, auch der Weg nach den Sommerferien ist noch unklar. Inwiefern werden die Meinungen und Bedürfnisse der Schüler*innen bei diesen Themenkomplexen berücksichtigt?
Hierzu habe ich nur punktuelle Erkenntnisse und keine empirisch belegten Rückmeldungen; aber ganz sicher ist in Krisenzeiten die Neigung, „top down“ zu reagieren, d. h. die Maßnahmen durch die jeweilige Schulleitung vorzugeben, eher ausgeprägt. An einigen Schulen haben sich „Corona-Ausschüsse“ gebildet, die die jeweiligen Schritte zur Umsetzung des digitalisierten Unterrichts und zur (Teil-)Öffnung der Schulen diskutiert haben, aber wohl nur in wenigen Schulen waren Schüler*innen, i. e. S. die SV, daran beteiligt. Das widerspricht natürlich den erweiterten Beteiligungsmöglichkeiten für Schüler*innen, wie sie Bildungsministerin Dr. Stefanie Hubig bereits in ihrer Regierungserklärung im vergangenen Jahr angekündigt hat und wie sie jetzt auf Beschluss der Landtagsmehrheit ins neue Schulgesetzt aufgenommen wurden. Es wird sicher schwer werden, unter den gegenwärtigen Bedingungen auch dieses Thema wieder auf die Agenda zu setzen – umso wichtiger ist es.
Gerade in Krisenzeiten wird immer wieder deutlich, wie wichtig eine historische und erinnerungskulturelle Bildung ist. Wie kann und muss Schule und insbesondere der Geschichtsunterricht zukünftig aussehen, um bei Schüler*innen ein Geschichtsbewusstein zu entwickeln?
Der Geschichtsunterricht hat sich in den letzten dreißig Jahren – wie auch die Geschichtswissenschaft – grundlegend geändert: Von der Vermittlung von Zahlenkanons und der „Haupt- und Staatsaktionen“ großer Männer ist eine zunehmend sozial- und strukturgeschichtliche Ausrichtung in Richtung einer Gesellschaftsgeschichte (Wehler u. a.) und z. B. einer Alltagsgeschichte zu erkennen, die auch an regionaler Geschichte und an den Biografien ganz normaler Menschen, insbesondere derjenigen, die zum Opfer geworden sind, orientiert ist. Von zentraler Bedeutung erscheint mir, dass sich eine inzwischen wieder stärker zu vernehmende Forderung nach einem Schlussstrich der Erinnerung an die schlimmen Phasen der deutschen Geschichte nicht durchsetzt, sondern dass in der öffentlichen Diskussion, aber eben auch im Unterricht, an dieser mühsam erworbenen Erinnerungskultur festgehalten und dass sie offensiv verteidigt wird. Aber zu einer angemessenen Erinnerungskultur gehört eben auch, dass wir uns stärker der positiven Ereignisse und Erinnerungsorte einer deutschen Demokratiegeschichte, wie etwa in Rheinland-Pfalz der Mainzer Republik und des Hambacher Festes und Schlosses bewusst werden und diese angemessen pflegen und vor allem zielgruppengerecht an jüngere Menschen vermitteln.
Im Bereich der historisch-politischen Bildung sowie der Demokratiepädagogik sind Sie seit langen Jahren sehr aktiv und stehen auch für große Visionen. Wie sieht für Sie die Schule der Zukunft aus?
Ich wünsche mir eine Schule der Zukunft,
- in der das gemeinsame Lernen und Arbeiten in gegenseitigem Respekt im Mittelpunkt steht und das (Be-)Lehren in einem hierarchischen System noch mehr zurückgenommen wird;
- in der das Mitwirken und Mitverantworten von Anfang an zum Prinzip für die Schulorganisation, die Gestaltung des Schullebens, aber auch für Unterricht/Lernprozesse bis hin zur Bewertung/Beurteilung (Feedback-Kultur) zur Leitlinie wird;
- in der die drei schulischen Gruppen (Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern) vertrauensvoll „auf Augenhöhe“ zusammenarbeiten und dabei neue basisdemokratische Formen der Partizipation, wie z. B. der „Klassenrat“ auf- und ausgebaut werden und zugleich neue Formen, wie das paritätisch besetzte „Schulparlament“ modellhaft entwickelt und erprobt werden.