Dr. Felix Klein ist seit 2018 der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Mit ihm sprachen wir u. a. über die Bedeutung der sogen. SchUM-Stätten in Rheinland-Pfalz für die jüdische Kultur und Tradition, die Rolle einer lebendigen Erinnerungskultur und insbesondere der Bildung im Kampf gegen Antisemitismus heute.
Interview: Hans Berkessel, Dr. Cornelia Dold, Henrik Drechsler | 11. Januar 2023
Zur Person
Dr. Felix Klein studierte Rechtswissenschaften in Freiburg, Berlin und London und absolvierte die Ausbildung für den höheren Auswärtigen Dienst in Bonn. An der Universität St. Gallen promovierte er 2001. Er war Länderreferent für Südamerika, auf Auslandsstationen in Jaunde/Kamerun und Mailand sowie von 2007 bis 2018 in mehreren Funktionen im Auswärtigen Amt in Berlin, zuletzt als Sonderbeauftragter für Beziehungen zu jüdischen Organisationen und Antisemitismusfragen tätig. Seit 2018 hat er das neugeschaffene Amt des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus inne, die dem Bundesministerium des Innern und für Heimat in Berlin zugeordnet ist.
Foto: Bundesministerium des Innern und für Heimat
Wo liegen die Hauptschwerpunkte Ihrer Arbeit und welche Erfahrungen haben Sie in der konkreten praktischen Arbeit gemacht?
Meine Aufgaben sind in einem Bundestagsbeschluss von 2018 festgelegt. Dazu gehört,
- die Maßnahmen der Bundesregierung im Kampf gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben ressortübergreifend zu koordinieren.
- Ansprechpartner für jüdische Gruppen und gesellschaftliche Organisationen zu sein, die im Bereich der Antisemitismusbekämpfung und in den jüdischen Gemeinden aktiv sind.
- die Gesellschaft für aktuelle und historische Formen des Antisemitismus durch Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen zur politischen Bildung zu sensibilisieren.
Mit der Einrichtung dieses Amtes können wir nun über Antisemitismus in seinen verschiedenen Formen besser aufklären, die Aufmerksamkeit dafür schärfen und die bestehenden Maßnahmen gegen Antisemitismus auch bündeln. Zusätzlich sind wir damit nun in der Lage, seitens der Bundesregierung, aber ich hoffe eben auch seitens der Gesellschaft, strategischer mit Antisemitismus umzugehen, losgelöst von einzelnen Vorfällen.
Wie sieht bei Ihnen ein ganz normaler Tagesablauf aus? Was kommt so auf Sie zu an Anrufen, an Anfragen, an Veranstaltungen, Gesprächen, Sitzungen?
Der Tag beginnt immer mit der Sichtung der Presseschau. Bundesweit werde ich darüber informiert, was in Zeitungen und in bedeutenden sozialen Medien los ist beim Thema Antisemitismus, ob es Vorfälle gegeben hat, Gedenkveranstaltungen, Forderungen von politisch Handelnden etc.
Dies werte ich dann aus und komme mit meinen Mitarbeitenden zusammen, und wir überlegen, ob ich mich einschalten muss in den einen oder anderen Vorgang und ob ich selbst Stellung nehmen soll. Dies betrifft die Tagesaktualität zur eigenen Öffentlichkeitsarbeit.
Ich bin viel in Kontakt mit Bundestagsabgeordneten, die sich einsetzen wollen und berate diese. Ich bin auch im Austausch mit vielen Ressorts der Bundesregierung und überprüfe deren Programme im Hinblick darauf, ob sie im Kampf gegen Antisemitismus effizient genug sind. Ich habe im letzten Jahr, am 30. November, eine nationale Strategie gegen Antisemitismus vorgelegt, die von der Bundesregierung veröffentlicht wurde, und in deren Vorfeld ich viele Ressortbesprechungen durchgeführt habe. Ich bin auch in Kontakt gewesen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich in den ganzen Bereichen, die da in Frage kommen, engagieren. Also gerade auch beim Thema Erinnerungskultur, das ist ja ein sehr wichtiger Schlüssel, den wir im Kampf gegen Antisemitismus haben. Und ich führe eben auch viele Veranstaltungen zum Thema durch. Am kommenden Montag (Anm.: gemeint war der 16.01.2023) machen wir z. B. eine Veranstaltung hier in Berlin in der französischen Botschaft zum Thema 125 Jahre offener Brief von Émile Zola „J’accuse …!“, der die Dreyfus-Affäre in Frankreich ja ganz entscheidend beeinflusst hat. Und damit wollen wir auch zeigen, dass es schon vor 125 Jahren positive Signale gab, dass es Menschen gab, die sich gegen Antisemitismus engagiert haben und dass man da auch was erreichen kann.
Und ab und zu habe ich natürlich auch Gespräche mit eigentlich fast allen Minister*innen und Staatssekretär*innen der Bundesregierung, weil Antisemitismus wirklich ein Querschnittsthema ist, das jedes Regierungshandeln betrifft. Das ist ein Fazit, das ich jetzt aus den letzten fünf Jahren mitgenommen habe.
Was war Ihre Motivation im vergangenen Oktober nach der Einladung durch die neue Landesbeauftragte, Frau Fuhr, zwei der drei sogenannten SchUM-Städte zu besuchen? Was haben Sie erwartet, und was waren Ihre Eindrücke, als Sie dann dort vor Ort waren?
Ich hatte schon lange geplant, die drei SchUM-Städte zu besuchen, weil ich auch im Ausland immer wieder darauf angesprochen werde. Es ist ja die erste Weltkulturerbestätte in Deutschland mit direktem jüdischem Bezug. Sie können sich vorstellen, dass das auf sehr viel Interesse stößt, vor allem in den USA, in Israel, aber auch in anderen Ländern. Daher war es mir wichtig, einmal selbst vor Ort gewesen zu sein.
Ich war wirklich beeindruckt von der Art und Weise, wie dieses jüdische Kulturerbe präsentiert wird, wie verantwortungsvoll mit diesem Titel umgegangen wird. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass ich von den Oberbürgermeistern der beiden Städte empfangen wurde. Ich habe mich über die didaktischen Materialien erkundigt, die erstellt wurden, und auch über das begleitende Veranstaltungsprogramm. Das ist wirklich alles sehr gut gemacht. In Speyer kommt noch hinzu, dass diese Stadt mit dem Kaiserdom und den jüdischen Orten nun zwei Weltkulturerbestätten hat. Das ist eine einzigartige Situation, ich glaube sogar weltweit. Und ich freue mich sehr, dass die Oberbürgermeisterin Seiler das auch so sieht und entsprechende Überlegungen anstellt, wie das in geeignet Weise bekannt gemacht werden sollte.
Haben Sie mit den betreffenden Gesprächspartnern darüber gesprochen, wie weit die Präsentation und das Bewusstsein dieses Erbes jetzt auch in der allgemeinen Bevölkerung angekommen ist?
Ja natürlich, das war Gegenstand unserer Beratungen; gerade in Speyer habe ich mich sehr darüber gefreut, dass das Weltkulturerbe auch in die touristischen Angebote eingebettet wird. Dieses Signal halte ich für entscheidend: jüdisches Erbe ist ein selbstverständlicher Teil unserer Kultur hierzulande. Das hat Vorbildcharakter; ich war sehr positiv beeindruckt.
Welchen Eindruck haben Sie vom Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“? Ist das mehr eine Situation des Erinnerns, des Rückblicks gewesen oder gab es auch Verbindungen zu aktuellem jüdischem Leben und Möglichkeiten, mit jüdischem Leben konfrontiert zu werden? Also mit dem, was in den Gemeinden passiert, mit der jüdischen Tradition, der Religion, den Festen etc. ?
Aus meiner Sicht war das Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ein großer Erfolg, weil es gerade gezeigt hat, dass in der deutschen Öffentlichkeit ein großes Interesse an jüdischem Leben heute und jüdischer Kultur besteht, dort insbesondere an den Veranstaltungen zu den Themenbereichen Musik, Kunstausstellungen, aber auch Tanz und Essen. Auch die öffentlichen Laubhüttenfeste, die es gab, haben großes Interesse hervorgerufen. Ich glaube, auch in Rheinland-Pfalz waren einige Städte dabei, in denen das gemacht wurde. Das hat mich sehr gefreut, denn in der öffentlichen Wahrnehmung kam das bisher kaum vor.
Viele Menschen denken, wenn sie „jüdisches Leben“ hören, eher an Probleme oder an jüdisches Leid und Tod. Wir müssen wegkommen von dieser Assoziation, dass die Menschen ausschließlich an den Holocaust, an antisemitische Vorfälle und den Nahostkonflikt denken, wenn sie das Wort ,Juden‘ hören. Denn jüdisches Leben hat ja sehr viel mehr Aspekte. Die jüdische Gemeinschaft hat zur Stärke unseres Landes beigetragen. Und um diese Geschichte und auch das jüdische Leben heute sichtbar zu machen, dazu hat das Projekt 1700 Jahre sehr viel bewirkt. Ich freue mich sehr, dass die jüdischen Gemeinden sich an der Initiative so aktiv beteiligt haben. Meines Erachtens ist das auch ein Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Ich weiß nicht, ob sie vor 30 Jahren oder auch noch vor 20 Jahren dazu in diesem Maße dazu bereit gewesen wäre. Das ist auch ein Vertrauensbeweis. Und das freut mich natürlich sehr.
Was sind denn die Ergebnisse Ihrer und Ihrer Fachleute Analyse, was die Ursachen dieses Antisemitismus heute sind, der sich immer wieder im Alltag gegen Einrichtungen und gegen Menschen richtet, trotz der Geschichte dieses Landes und der inzwischen vielerorts gelebten Erinnerungskultur. Was sind Ihre Befunde?
Nach 1945 ist der Antisemitismus in Deutschland nicht verschwunden. Das wäre ja auch überraschend. Zwölf Jahre lang waren die Menschen der NS-Propaganda ausgesetzt. Natürlich blieben diese antisemitischen Stereotypen und Bilder, die ja die Nazis auch nicht erfunden haben, sondern die Jahrhunderte alt sind und auch von den Kirchen ja stark propagiert wurden, in den Köpfen der Menschen. Es ist uns allerdings gelungen, glaube ich, in den ersten Jahrzehnten nach 1945 den Antisemitismus doch zumindest so in die Ecke zu drängen, dass er wirklich in die extremistischen Lager verbannt wurde und sich nicht so sichtbar zeigen konnte. Was wir aber heute erleben, ist, dass Antisemitismus hoffähiger wird und auch in der Mitte der Gesellschaft wieder toleriert wird. Also, dass das, was einige Menschen früher nur dachten, sich jetzt auch öffentlich manifestiert. Das Internet, die sozialen Medien haben dazu sehr stark beigetragen, auch eine Verrohung der politischen Kultur im Allgemeinen und gleichzeitig die gesellschaftlichen Krisen der letzten Zeit.
Unsere Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen in Krisenzeiten anfälliger werden für irrationale Erklärungsmuster, und der Antisemitismus ist so eines. Diese verleiten zu einer Suche nach einem Schuldigen, nach jemandem, der profitiert, und zu Verschwörungsmythen. Das konnte man gerade in der Corona-Pandemie sehen. Deswegen ist es nicht weiter verwunderlich, mit den Möglichkeiten der sozialen Medien, dass Menschen sich antisemitisch äußern und dass die Hemmschwellen sinken. Wenn man am Computer sitzt und z. B. einen antisemitischen Post absetzt, geht das leichter, als wenn man sich im persönlichen Umfeld, in einem Restaurant oder am Arbeitsplatz antisemitisch äußert. Da erwartet man vielleicht eher noch Widerstand. Dies hat eben leider zum Vordringen von Antisemitismus geführt.
Sie haben ja nun im Auftrag der Bundesregierung eine „Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben“ veröffentlicht. Was ist die Kernbotschaft dieses Papiers? Könnten Sie dazu etwas ausführen und zu zwei ausgewählten Handlungsfeldern, wie zum Beispiel Bildung und Erinnerungskultur?
In der Strategie haben wir Ziele formuliert, statt einen Maßnahmenkatalog vorzulegen. Wo wollen wir hin? Tun wir als Gesellschaft genug gegen Antisemitismus? Und wir haben die Ziele nicht nur für Politik und Verwaltung formuliert, sondern für die gesamte Gesellschaft. Tut jeder Einzelne von uns genug gegen Antisemitismus? Und da haben wir fünf relevante Handlungsfelder identifiziert: „Daten, Forschung und Lagebild“, „Bildung als Antisemitismusprävention“, „Erinnerungskultur Geschichtsbewusstsein und Gedenken“, „Repressive Antisemitismusbekämpfung und Sicherheit“ und fünftens „Jüdische Gegenwart und Geschichte“.
In diese fünf Handlungsfelder fließen Handlungsaufträge ein aus sogenannten Querschnittsdimensionen, die immer wichtig sind im Kampf gegen Antisemitismus:
- Die Berücksichtigung der Betroffenenperspektive, vor allem von Jüdinnen und Juden, aber auch von anderen Betroffenen von Antisemitismus,
- Strukturbildung, wie die Schaffung meines Amtes, aber auch die Bund-Länder-Kommission der Beauftragten.
- Digitalität
Ihre Einrichtung „Haus des Erinnerns …“ ist ein Beispiel dafür, wie das gelingen kann, wenn Sie eben die jüdische Gemeinde vor Ort einbinden in Ihre Maßnahmen, aber es nicht auf sie abwälzen, dass sie den Kampf gegen Antisemitismus allein führen oder diese Aktivitäten entwickeln muss. Denn das stellt die Strategie auch klar: Der Kampf gegen Antisemitismus ist keine jüdische Aufgabe, sondern eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft.
Die beiden Handlungsfelder, die Sie angesprochen haben, sind sehr wichtig, und Bildung ist eigentlich selbsterklärend. Es ist zentral, dass wir im Schulunterricht zeitgemäße Bilder des Judentums vermitteln, sodass die Jugendlichen eben mit der Realität jüdischen Lebens heute in Kontakt kommen. Sie müssen auch mit Angeboten bedient werden, die sie zeitgemäß ansprechen, wie digitale Angebote, auch was die Vermittlung des Judentums, aber auch des Holocaust im Unterricht angeht.
Und im Handlungsfeld Erinnerungskultur ist es wichtig, dass wir klarmachen, dass jeder und jede etwas tun kann. In der Gemeinde, in der man zu Hause ist, kann man jüdische Spuren suchen und sichtbar machen, um dieses jüdische kulturelle Erbe als Teil der gesamtkulturellen Realität und der Angebote, die vor Ort gemacht werden, zu verstehen. Das Strategiepapier zeigt Beispiele auf, sodass wir die Menschen in die Lage versetzen, mit Antisemitismus auch strategisch und angemessen umzugehen. Zum Beispiel in Bezug auf die Lehrkräfte in den Schulen, dass wir sie aus- und fortbilden zu diesem Themenkomplex und dass sie wissen, wie sie sich verhalten müssen, wenn Antisemitismus im Schulalltag auftritt. Dafür liefert die Strategie Hilfe und Orientierung.
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die kleine Publikationsreihe, die wir in Rheinland-Pfalz zu den SchUM-Stätten aufgelegt haben?
Diese Publikation ist wirklich ein Paradebeispiel dafür, wie wir uns das vorstellen, wie man Informationen über jüdisches Leben anschaulich vermitteln kann. Besonders gut finde ich, dass mit der Publikation gleichzeitig auch didaktische Angebote verbunden sind. Das ist wirklich ganz hervorragend und attraktiv gemacht: allgemeinverständlich, schön bebildert, gut aufgearbeitet Ich hoffe, dass möglichst viele Personen von diesem Angebot Gebrauch machen.
Sie haben es eben kurz angedeutet, mit dem Stichwort Migrationsgesellschaft. Wir haben inzwischen einen relevanten Bestandteil an Antisemitismus, der aus einem islamistischen Hintergrund kommt. Wie schätzen Sie da die Möglichkeiten für Präventions- aber auch Sanktionsmaßnahmen ein, möglicherweise auch im Unterschied zu dem „klassischen rechtsextremen Antisemitismus“?
Wir müssen jede Form von Antisemitismus bekämpfen. Wir sollten auf keinen Fall eine Hierarchisierung vornehmen, welche Form nun gefährlicher ist als die andere. Das ist mir sehr wichtig. Wenn Sie sich die polizeiliche Kriminalstatistik der antisemitischen Straftaten ansehen, ist die Anzahl der Täter mit Migrationshintergrund bei den Delikten nicht sehr hoch. Etwa 90% sind dem rechten Umfeld zuzuordnen.
Wir hier vor allem eine Integrationsaufgabe vor uns und müssen als Gesellschaft Angebote machen, um die Menschen mit ausländischen Wurzeln davon zu überzeugen, dass es in Deutschland nicht akzeptiert wird, wenn man sich antisemitisch betätigt oder das Existenzrecht Israels verneint.
Und da gibt es ja durchaus schon Angebote. Zum Beispiel in unserer Erinnerungskultur gibt es Beispiele, an denen wir zeigen können, dass sich etwa auch Muslime gegen die Nazis gewandt haben. Hier in Berlin haben wir das Handeln des Arztes Dr. Mohamed Helmy, ein Ägypter: Er ist der einzige Araber, der als „Gerechter unter den Völkern“ von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem geehrt wurde. Ein Arzt, der selbst angefeindet wurde von den Nazis, aber eine jüdische Familie versteckt hat in seiner Gartenlaube. Sowohl er als auch die von ihm geschützte Familie hat überlebt. Das zeigt, dass Muslime mitnichten Feinde der Juden sind. Dieser Mann ist ein Held, und nicht nur Muslime können sich mit ihm identifizieren, sondern alle. Und solche Beispiele gilt es aufzugreifen und in unserer Erinnerungskultur stärker einzubinden. Auch die Rolle der Türkei als Aufnahmeland jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland in den 1930er und 1940er Jahren sollte stärker beleuchtet werden, um Brücken zu bauen. Und noch einmal: Den Menschen, die in den letzten Jahren zu uns gekommen sind, müssen wir klarmachen, dass es wichtig ist, dass sie auch die Geschichte unseres Landes kennen müssen, um sich hier erfolgreich integrieren zu können. Das ist ein notwendiges Rüstzeug für mündige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Das müssen wir noch stärker vermitteln, aber es gibt ja auch schon gute Ansätze, es gibt hervorragende Programme und Menschen, die sich hier engagieren. Gleichwohl stellen wir fest, dass der sogenannte israelbezogene Antisemitismus die am meisten verbreitete Form in Deutschland ist, quer durch die ganze Gesellschaft. Und dass dann, wenn zum Beispiel im Nahen Osten wieder Spannungen herrschen, vor jüdischen Einrichtungen in Deutschland Demonstrationen stattfinden. Diesen Mechanismus gilt es aufzubrechen.
Für viele Menschen ist es nicht so ganz einfach, zwischen einer berechtigten Kritik der jeweiligen Regierung in Israel und einer Form der Kritik zu unterscheiden, die eben antisemitische Stereotype bedient. Können Sie mal versuchen die Trennlinie zu beschreiben, die zwischen diesen beiden Formen der kritischen Äußerungen besteht?
Es findet täglich Kritik an israelischem Regierungshandeln statt, ohne dass Antisemitismusvorwürfe geäußert werden. Die Grenze ist aus meiner Sicht überschritten, wenn:
- Maßstäbe angelegt werden an das Handeln der israelischen Regierung, die höher sind als die Maßstäbe, die an das Handeln anderer westlicher Staaten oder demokratischer Staaten gelegt werden. Dann wird es schwierig, wenn hier doppelte Standards zugrunde gelegt werden.
- Israel delegitimiert wird und wenn zum Beispiel der Staat Israel als Apartheitsstaat bezeichnet wird. Ein Apartheitsstaat ist per Definition nicht legitim, und da wird es aus meiner Sicht ganz klar antisemitisch oder wenn das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird.
Aber es ist zum Beispiel nicht antisemitisch, wenn man die Siedlungspolitik kritisiert, wenn der Grenzverlauf der Mauer, die Israel ja schützen soll vor terroristischen Angriffen aus dem Westjordanland, kritisiert wird, weil diese teilweise über ein Gebiet verläuft, das den Palästinensern im Rahmen der sogenannten Zweistaatenlösung zugesprochen werden soll.
Wie sollte man in diesem Zusammenhang mit der Initiative umgehen, die den israelischen Warenexport boykottiert? Sollte man sich dieser Diskussion stellen oder kann man dabei nichts gewinnen?
Ja, in der Tat, das ist eine neue Diskussion, und ich finde einige Stimmen wirklich höchst bedenklich, die in diesem Zusammenhang mit Blick auf unsere Erinnerungskultur sagen, dass die Fixierung der Deutschen auf den Holocaust eine Art „Katechismus“ darstellt, der den Blick verhüllt für andere Völkermorde oder auch für die deutschen Kolonialverbrechen. Ich finde, das Gegenteil ist richtig. Wenn die Menschen durch die Holocaust-Erinnerung sensibilisiert werden, dann haben sie sind sie auch für die Anerkennung anderer Völkermorde sensibilisiert. Gerade in Deutschland haben wir eine besondere Verantwortung, gegen Antisemitismus vorzugehen. Wenn – wie im vergangenen Jahr auf der documenta in Kassel –offen antisemitische Bilder gezeigt werden, die auch im NS-Hetzblatt „Stürmer“ hätten veröffentlicht werden können, dann müssen hierzulande die Alarmglocken klingen. Und das müssten eigentlich auch Künstlerinnen und Künstler verstehen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Und deswegen ist in Kassel der grundsätzlich sinnvolle Versuch, die Perspektive anderer Länder und Kulturen des sogenannten globalen Südens im kulturellen Diskurs bei uns einzubringen, völlig gescheitert. Und hieraus müssen wir Konsequenzen ziehen.
Zu Ihrer Frage, die auf die sogenannte BDS-Bewegung abzielt, also die Bewegung, die die alle Kontakte in Wissenschaft, Kultur, Handel und jeglichen Austausch mit Israel, boykottieren und auf diese Weise Druck ausüben will: Ich finde, diese Bewegung ist in Zielen und Methoden antisemitisch. Wir müssen uns politisch mit ihr auseinandersetzen. Ich halte nichts von einem Verbot dieser Bewegung. Wir müssen mit politischen, gesellschaftlichen Mitteln die Menschen überzeugen, dass sie auf einen falschen Weg führt. Denn diese Bewegung hat sich nicht zur Zweistaatenlösung bekannt. Letztlich würde die Realisierung der Ziele dieser BDS-Bewegung auf das Ende von Israel als Staat hinauslaufen, und das Existenzrecht dieses Landes in Frage stellen. Deswegen halte ich diese Bewegung für höchst problematisch.
Wie beurteilen Sie das Instrument der Gedenkstättenfahrten und welchen Stellenwert geben Sie diesem konkreten Thema in der Erinnerungskultur, aber eben auch im Bildungsbereich?
Die Gedenkstätten werden immer wichtiger, gerade auch in den Zeiten, in denen wir keine Überlebenden mehr unter uns haben werden. Es sollte ein Ziel sein, jedem jungen Menschen zumindest einmal in seiner Schullaufbahn den Besuch einer Gedenkstätte zu ermöglichen, die aber dann auch gut vorbereitet sein muss. Nur eine Gedenkstättenfahrt zu machen, und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen, wäre nicht gut, weil da unter Umständen unerwünschte Übersprungshandlungen provozieren werden könnten. Ich freue mich deswegen, dass es in Ihrem „Haus des Erinnerns …“ einen Gedenkstättenreferenten gibt, der als Auskunftsperson für Schulleitungen und Lehrpersonal zur Verfügung steht und dazu beitragen kann, dass diese Fahrten gut in die pädagogischen Konzepte von Schule eingebettet werden. Gerade die Erinnerungsarbeit in Gedenkstätten kann verdeutlichen, wohin die extremste Form von Antisemitismus in Deutschland geführt und welches Unheil sie über viele Länder Europas gebracht hat.
Wir bemühen uns in Rheinland-Pfalz gerade darum eine landesweite „Koordinierungsstelle für jüdisches Leben und jüdische Kultur“ einzurichten und sind da gerade im Gespräch mit Monika Fuhr, der Landesbeauftragten. Wie sehen Sie diese Initiative?
Das ist eine großartige Initiative! Ich wünsche Ihnen bei diesem Vorhaben alles Gute und drücke die Daumen, dass es gelingt. Dann wäre Rheinland-Pfalz bundesweit ganz vorne! Das können Sie auch gerne den Beteiligten so übermitteln.
Herr Dr. Klein wir danken Ihnen für dieses aufschlussreiche Gespräch.