Seit 2013 ist Malu Dreyer Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz. Mit ihr sprachen wir über die Bedeutung einer aktiven Gedenkkultur, die Kampagne „Miteinander gut leben – Rheinland-Pfalz gegen Hass und Hetze“, die in unserem Haus präsentiert wurde, sowie über die Herausforderungen durch die Corona-Pandemie.
Interview: Dr. Cornelia Dold & Janika Schiffel | Februar 2021
Zur Person
Malu Dreyer wurde am 6. Februar 1961 in Neustadt an der Weinstraße geboren. Nach dem Studium und dem zweiten juristischen Staatsexamen arbeitete Malu Dreyer zunächst als Wissenschaftliche Assistentin im Fachbereich Rechtswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und als Staatsanwältin in Bad Kreuznach. Von 1995 bis 1997 war sie hauptamtliche Bürgermeisterin der Stadt Bad Kreuznach und von 1997 bis 2002 Dezernentin für Soziales, Jugend und Wohnen der Stadt Mainz. Ab 2002 bekleidete sie das Amt der Ministerin für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit des Landes Rheinland-Pfalz, später kamen noch die Ressorts Frauen und Demografie hinzu. Seit 16. Januar 2013 ist Malu Dreyer Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz.
Foto: © Staatskanzlei RLP/ Elisa Biscotti
Demokratie und Akzeptanz sind die Grundpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft, die geschützt und gefördert werden müssen. Welchen Beitrag leistet dabei Ihrer Meinung nach eine aktive Gedenkkultur, wie sie unter anderem im Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz in Mainz gepflegt wird?
Der Nationalsozialismus ist das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte. Es ist und bleibt wichtig, die Erfahrungen der Schreckensherrschaft mit all ihren finsteren Folgen immer wieder aufs Neue – auch für die nachfolgenden Generationen – in Erinnerung zu bringen. Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass sich die Diktatur des Terrors niemals wiederholt. Dafür müssen die Lehren aus der Geschichte und das Gedenken an die Opfer lebendig gehalten werden. Dies geschieht im Haus des Erinnerns in besonders anschaulicher, moderner Weise, mitten in der Landeshauptstadt.
Aus der Geschichte wissen wir, wie kostbar, aber auch wie zerbrechlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind. Meinungs- und Pressefreiheit sind ein hohes Gut. Aber niemand kann sich für Hass und Hetze auf das Grundgesetz berufen. Die Würde jedes Menschen ist unantastbar – ganz gleich, woher jemand kommt, welches Geschlecht jemand hat, was jemand glaubt, welches Handicap jemand hat, in welcher sozialen Situation jemand lebt oder wie jemand liebt.
Menschenfeindlichkeit muss immer und überall deutlich entgegengetreten werden. Hass und Hetze haben in Rheinland-Pfalz keinen Platz. Bei aller Verschiedenheit der Meinungen stehen wir für ein Miteinander des Respekts. Bei uns zählen Mitgefühl, Toleranz und Zivilcourage. Wir wollen miteinander gut leben.
Unter anderem bei Ihrer Pressekonferenz zum landesweiten Themenschwerpunkt „Miteinander Gut Leben – Rheinland-Pfalz gegen Hass und Hetze“ haben Sie das Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz in Mainz besucht. Wieso ist gerade dieser Schwerpunkt wichtig und was bewog Sie dazu, die Pressekonferenz in unserem Haus zu halten?
Unsere freie und plurale Gesellschaft wird zunehmend durch radikale Kräfte bedroht. Überall in der Welt, aber auch in Deutschland, müssen wir immer wieder erleben, dass unser friedliches Zusammenleben keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Im Kampf gegen diese Bedrohung müssen wir alle, muss auch Europa, zusammenstehen. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass der Umgang auf der Straße und im Netz immer aggressiver wird. Wir müssen widersprechen, wenn Einzelne oder Minderheiten verächtlich gemacht werden. Und wir müssen uns vor diejenigen stellen, die Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen, wenn sie beleidigt und bedroht werden.
Gemeinsam können wir der Radikalisierung etwas entgegensetzen. Mir persönlich macht es immer wieder Mut, dass gerade auch junge Menschen diese Gefahren ernst nehmen, sich engagieren und beherzt für unsere Demokratie einsetzen. Beim Demokratietag im November, erstmals vollständig digital durchgeführt, konnten wir gemeinsam ein starkes Zeichen gegen Populismus, Verachtung, Verleumdung und Verrohung setzen. Gemeinsam ringen wir darum, dass Hass und Hetze aus der Sprache, aus den Köpfen und Herzen der Menschen verschwinden. Die Landesregierung hat im Frühjahr die Kampagne „Miteinander Gut Leben – Rheinland-Pfalz gegen Hass und Hetze“ gestartet. Wir haben für den Auftakt dieser Kampagne ganz bewusst das Haus des Erinnerns gewählt. Zum einen, weil es mit seinem Profil der Gedenkarbeit angesichts unserer Geschichte wohl kaum einen angemesseneren Ort dafür gegeben hätte. Zum anderen aber auch, weil völlig klar ist, dass diese Herausforderung nicht allein durch den Staat zu bewältigen, sondern auf eine starke und couragierte Zivilgesellschaft angewiesen ist. Im Haus des Erinnerns arbeiten viele dieser Partner engagiert zusammen. Ich bin sehr dankbar und freue mich, dass Sie alle unsere Kampagne unterstützen. Ich will diese Gelegenheit auch gern nutzen, um alle Bürger und Bürgerinnen zu ermutigen, sich unserem Appell anzuschließen und unsere gemeinsame Erklärung gegen Hass und Hetze zu unterzeichnen.
Wir leben gerade in einer sehr ungewöhnlichen Zeit. Die Krise durch die Corona-Pandemie scheint extreme Meinungen zu befördern bzw. lauter werden zu lassen. Wie verändert sich in Ihren Augen dadurch unsere Demokratie?
Die Demokratie in Deutschland ist stabil, aber sie ist kein Naturgesetz. Die demokratischen Institutionen sind handlungsfähig, und die Regierungen und Parlamente in den Ländern wie im Bund haben in extrem kurzer Zeit weitreichende Entscheidungen zur Eindämmung der Pandemie getroffen. Und die Demokratie wird getragen und gelebt von den Bürgern und Bürgerinnen. Das ist erstmal ein gutes Zeichen und ein Beweis: Wir leben in Deutschland in einer so stand- wie krisenfesten Demokratie.
Aber klar ist ebenfalls: Krisenzeiten bringen viele Menschen in absolute Stresssituationen. Das schlägt sich auch gesellschaftlich nieder, und deshalb bin ich überhaupt nicht überrascht, dass so wie der Alltag der Menschen sehr angespannt ist, es auch die politischen Debatten sind. Die Pandemie ist absolut herausfordernd und zwar für alle Bereiche.
Wir leben in einem freien Land, und es ist völlig verständlich, dass manche politischen Entscheidungen, gerade solche, die tief in das Alltagsleben der Menschen eingreifen, kritisch beurteilt werden. Hinzu kommt, dass es bei einem Teil der Betroffenen um ihre wirtschaftliche Existenz, oft auch um ihr Lebenswerk geht. Menschen haben Ängste und Nöte, wirtschaftliche, gesundheitliche, soziale. Dafür habe ich sehr viel Verständnis. Eine Grenze wird aber dort überschritten, wo Gesetze und Regeln nicht eingehalten werden, weil man einfach anderer Meinung ist. Wir leben in einem Rechtsstaat. Diejenigen, die gegen Corona-Maßnahmen demonstrieren und sich dabei an die Auflagen halten, haben zwar nicht meine Sympathie, aber sie nehmen ein Grundrecht in Anspruch. Aber ich kritisiere die scharf, die sich eben nicht an die Auflagen halten, die durch ihr rücksichtsloses Verhalten andere gefährden. Und ich kritisiere diejenigen scharf, die demonstrieren, aber dabei gemeinsame Sache mit Antidemokraten, Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern machen. Das gefährdet unsere Demokratie und das dürfen wir nicht einfach so hinnehmen.
Wir erleben momentan die von einigen Virologen vorhergesagte „zweite Welle“ des Corona-Virus. Die Folgen dieser Krise – gerade auch die langfristigen – sind noch nicht abzusehen. Gibt es aus Ihrer Sicht dennoch bestimmte „Lehren“, die wir als Gesellschaft aus der Pandemie ziehen können?
Ich glaube, im Rückblick wird das 2020 auch als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem die hohe Bedeutung eines leistungsfähigen und starken Staates bewusstgeworden ist. Selten zuvor gab es bei den Menschen so sehr das Bedürfnis, dass der Staat sie schützt, dass er Dinge regelt, dass er Unterstützung leistet.
Wir haben erneut den Wert eines guten Gesundheitssystems vor Augen geführt bekommen. Wir haben erneut gezeigt bekommen: Schulen und Kitas sind von existenzieller Bedeutung, für die Bildung unserer Kinder, aber auch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und wir haben gesehen: ein starker Sozialstaat, mit dem Kurzarbeitergeld und vielen weiteren Instrumenten, ist unverzichtbar für unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft. Zugleich greift der Staat zum Gesundheitsschutz sehr stark in die Grundrechte der Menschen ein. Uns ist das sehr bewusst – auch, dass wir immer wieder abwägen und begründen müssen. Und Einschränkungen zurücknehmen müssen, so schnell, wie es die Pandemie zulässt. Was sich aber für mich auch in dieser Pandemie zeigt, ist, dass die Menschen in weiten Teilen sehr solidarisch sind und sich sehr eigenverantwortlich verhalten.
Ehe unser Alltag durch die Corona-Pandemie bestimmt wurde, haben wir eine sehr aktive und engagierte Jugend erlebt, die auf die Straße ging, um ihre Meinung zu äußern. Wie kann man die demokratische Teilhabe gerade junger Menschen in unserer Gesellschaft weiter fördern und dafür Sorge tragen, dass sie durch die Krise nicht geschwächt wird?
Nicht zuletzt die Bewegung Fridays for Future zeigt: Wir haben eine wirklich sehr engagierte junge Generation, die sich auch sehr selbstbewusst mit ihren Anliegen zu Wort meldet und in die Politik einmischt. Die von mir geführte Landesregierung unterstützt dieses Engagement seit Jahren sehr intensiv. Wir haben die Jugendpolitik als eigenständiges Politikfeld profiliert, fördern die außerschulische Jugendarbeit, die Partizipation in unseren Schulen, aber auch die Beteiligung junger Menschen in unseren Städten und Gemeinden in kommunalen Jugendvertretungen. Dafür stellen wir auch erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung.
Demokratie ist erleb- und erlernbar, je früher, desto besser. In dem von mir ins Leben gerufenen Bündnis „Demokratie gewinnt!“ arbeiten rund 40 Organisationen aus Rheinland-Pfalz zusammen, um junge Menschen von klein auf an Demokratie, Beteiligung und freiwilliges Engagement heranzuführen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Kitas und Schulen, aber auch außerschulische Bildungseinrichtungen. Auch Unternehmen bringen sich inzwischen engagiert in die gemeinsame Arbeit ein. Dass dieses Bündnis sehr lebendig ist, das haben wir im November beim Demokratietag erlebt. Es bleibt wichtig, dass wir die Strukturen für Engagement und Beteiligung junger Menschen erhalten und weiter ausbauen. Deshalb bin ich auch sehr zuversichtlich, dass die demokratische Teilhabe junger Menschen weiterhin fest zum politischen Alltag gehört. Ein wichtiges Ziel bleibt aus meiner Sicht auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre.
Die Einschränkungen, die für die Eindämmung der Ausbreitung des Corona-Virus getroffen werden mussten, werden zum Teil stark kritisiert. Welche Möglichkeiten für Engagement und Beteiligung sehen Sie trotz dieser Maßnahmen?
Die Pandemie hat in vielen Bereichen, so auch im bürgerschaftlichen Engagement, zu erheblichen Einschränkungen geführt. Und doch ist das Engagement nicht zum Erliegen gekommen. Es hat sich vielerorts neue Formen und Wege gesucht. Ich denke dabei an die vielen kreativen Ideen nachbarschaftlicher Hilfen oder an Initiativen in Kunst und Kultur. Dabei wurde immer wieder deutlich, dass wir in der Krise zusammenstehen. Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft, um gemeinsam durch diese schwierige Zeit zu kommen.
Eine besondere Chance bietet hier die Digitalisierung. Wir haben einen regelrechten Digitalisierungsschub auch in der Zivilgesellschaft erlebt, der zur Modernisierung in vielen unserer Vereine geführt hat. Junge Menschen spielen hier eine entscheidende Rolle, da sie ganz selbstverständlich mit den neuen Möglichkeiten umgehen und oft auch Treiber dieser Entwicklung sind. Beim Ideen-Wettbewerb „Ehrenamt 4.0“ konnte ich im vergangenen Jahr wieder zehn tolle Projekte auszeichnen, die innovative digitale Lösungen im und für ihr Engagement entwickelt haben und zur Nachahmung dienen können.
Nennen möchte ich auch den Jugend-Engagement-Wettbewerb „Sich einmischen – was bewegen“, den ich im letzten Jahr bereits zum siebten Mal ausgeschrieben habe. Ich war sehr gespannt, wie sich die Pandemie auf die Beteiligung am Wettbewerb auswirken würde. Und ich war begeistert, dass die Resonanz genauso hoch geblieben ist wie in den Vorjahren. Am 22. Januar habe ich in einer virtuellen Preisverleihung 34 Projekte auszeichnen können. Die Ideen beziehen sich auf sämtliche gesellschaftlichen Bereiche und zeigen, dass sich Kinder und Jugendliche auch unter schwierigen Bedingungen einbringen, sich beteiligen und engagieren wollen.
Es ist und bleibt wichtig, dieses Engagement sichtbar zu machen, es anzuerkennen und nach Kräften zu unterstützen. Das ist mir als Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz ein ganz wichtiges Anliegen.
Abgesehen von den Auswirkungen der Pandemie, vor welche Herausforderungen ist Rheinland-Pfalz in den nächsten Jahren besonders gestellt?
Wir haben es mit drei Megatrends zu tun, die die Landesregierung von Rheinland-Pfalz seit Jahren gestaltet: den demografischen Wandel, die Digitalisierung und den Klimaschutz.
Die Bevölkerung altert, und das hat große Auswirkungen auf das Gesundheits- und Pflegesystem, auf den Arbeitsmarkt, auch auf die Art unseres Zusammenlebens. Deshalb machen wir das Land zu einem guten Ort für Familien. Und bieten unseren älteren Bürgern und Bürgerinnen gute Rahmenbedingungen für ein selbstbestimmtes Leben.
Die Digitalisierung muss den Menschen dienen, nicht die Menschen der Technik. Wir nutzen ihre Chancen, um das Leben der Rheinland-Pfälzer und Rheinland-Pfälzerinnen besser zu machen. Das gilt in der Bildung ebenso wie für die Arbeitswelt. Verantwortlich handelt nur, wer wirksam das Klima schützt und unsere Erde den nachfolgenden Generationen lebenswert hinterlässt. Das ist eine Mammutaufgabe, der wir uns in Rheinland-Pfalz seit vielen Jahrzehnten stellen und die wir weiter mit noch mehr Tempo anpacken wollen: in der Wirtschaft, der Mobilität, dem Wohnen und Bauen. Wir Rheinland-Pfälzerinnen und Rheinland-Pfälzer leisten unseren Beitrag für ein ökologisch nachhaltiges Land.
Wenn Sie an die nähere Zukunft denken – welche Projekte wollen Sie angehen und welche Wünsche haben Sie für das Land Rheinland-Pfalz?
Die Bewältigung der Corona-Pandemie und ihrer sozialen, ökonomischen und kulturellen Folgen bestimmen mein Denken über die nähere Zukunft. Ich arbeite hart daran, dass Rheinland-Pfalz gestärkt aus der Krise hervorgeht – das ist mein Wunsch, und das ist auch meine Verantwortung als Regierungschefin dieses wunderbaren, lebenswerten und modernen Landes.