Seit 2015 ist Roland Imhoff Professor für Sozial- und Rechtspsychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Verschwörungsmentalitäten. Mit ihm sprachen wir über das Phänomen Verschwörungserzählungen und die Bedeutung von sozialen Medien sowie Krisensituationen für deren Verbreitung.
Interview: Dr. Cornelia Dold & Janika Schiffel | April 2021
Zur Person
Roland Imhoff ist Professor für Sozial- und Rechtspsychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2006 beschäftigt er sich in seiner Forschung mit Antisemitismus und Verschwörungsglauben. Er ist Teil der Taskforce „Verschwörungstheorien“ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.
In Gesprächen und Diskussionen über das Phänomen Verschwörungserzählungen werden hierfür immer wieder verschiedene Begriffe verwendet: Verschwörungstheorien, -mythen oder auch -ideologien. Welche Begriffe und Definitionen beschreiben das Phänomen in Ihren Augen am geeignetsten?
Die verschiedenen Begriffe stehen ja jeweils für leicht unterschiedliche Betrachtungen des Phänomens. Die Verschwörungsmythen zum Beispiel betonen, dass es sich um nicht zutreffende Annahmen handelt, während -ideologien mehr als eine konkrete Überzeugung umfassen mögen.
Ich persönlich nutze tatsächlich häufig den Begriff der Verschwörungstheorie, auch wenn manche ihn problematisch finden. Zum einen arbeite ich vor allem international, und international ist das der am besten etablierte und am häufigsten verwendete Begriff. Zum anderen untersuche ich, wann und warum Menschen hinter Ereignissen die geheimen Machenschaften heimlich agierender Gruppen vermuten, also einer Verschwörungstheorie zustimmen. Hierbei mache ich mich frei von Setzungen, ob diese Theorie immer notwendigerweise falsch sein muss (wie die Mythen es tun), sonst würde ich den ganzen Tag nichts anderes tun, als forensisch die Faktizität verschiedener Theorien zu überprüfen. Das steht aber gar nicht im Fokus meines Interesses, ob es stimmt oder nicht; sondern was Menschen dazu bringt, das zu vermuten. Viele Kritiker*innen monieren, dass die meisten Verschwörungsbehauptungen durch die Bezeichnung als Theorie eigentlich zu unrecht geadelt würden, obwohl sie keine formalen Kriterien einer Theorie erfüllen. Da gehe ich nicht so ganz mit, weil man das Gleiche auch vielen wissenschaftlichen Theorien vorwerfen könnte, ohne dass wir ihnen diese Selbstbezeichnung absprechen; zum anderen ist es auch gar nicht so, als seien die Befürworter*innen dieser Theorien stolz und glücklich mit diesem Begriff. Aus deren Warte ist es nämlich eine Frechheit, dass es sich „bloß“ um Theorien handeln soll.
Pia Lamberty, Doktorandin an Ihrem Lehrstuhl für Sozial- und Rechtspsychologie, schreibt in ihrem aktuellen Buch „Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“, dass man die Ausbreitung von Verschwörungsmythen nicht alleine auf die ‚neuen‘ Technologien und Plattformen zurückführen kann. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach hierbei dennoch Social Media Plattformen wie Twitter, Instagram oder auch YouTube?
Ich bin da sehr vorsichtig. In der digitalen Welt reisen Verschwörungstheorien weiter und bequemer. Aber das tun jedwede Informationen, Berichte aus aller Welt, Videos von ulkigen Dingen, Rezepte traditioneller Speisen. Der Traffic sorgt dafür, dass nahezu jede Information schneller verfügbar ist und häufiger auch ohne Suche angetroffen wird. Es kann sein, dass Verschwörungsnarrative einen asymmetrischen Vorteil haben, weiterverbreitet zu werden, zum Beispiel weil sie von ihrer narrativen Struktur etwas bedienen, was uns aus klassischen Dramen und Hollywood bekannt und vertraut ist: Nämlich eine manichäische Zuspitzung der Welt auf den Konflikt zwischen Oberschurken und Superhelden, gepaart mit dem Angebot durch die Weiterleitung und damit Offenlegung der Ungeheuerlichkeiten, selber so etwas zu werden wie ein Superheld. Die Evidenz zu diesem Vorteil ist aber bislang nicht sehr stark. Was ganz sicher stimmt, ist, dass sie eine weitere Verbreitung erfahren als vor den Zeiten des Internets. Das hängt damit zusammen, dass in westlichen Demokratien Verschwörungstheorien häufig heterodoxes Wissen sind, das sich gegen offizielle Versionen richtet. Mit sozialen Medien ist die Medienlandschaft einer Einwegkommunikation via Rundfunk, TV und Print verdrängt worden durch einen demokratischen Marktplatz, auf dem es nicht mehr eindeutig ist, dass die offizielle Version die größte Verbreitung erfährt. Schließlich, auch das sollte man nicht ignorieren, steckt in den meisten Algorithmen sozialer Medien eine Eskalationslogik. Von Impfkritik kommt man dann über Esoterik, Gesundheitsdiktatur ganz schnell zu 9-11 und Echsenmenschen.
Wie schätzen Sie den Einfluss der Echokammern in den sozialen Netzwerken ein?
Echokammern beschreiben ja das Phänomen, dass soziale Medien künstlich homogene Filterblasen erzeugen, in denen sich nur noch Gleichgesinnte wiederfinden, die sich gegenseitig bestätigen und nie Gefahr laufen, auf Widerspruch zu stoßen. Auch hier wäre ich vorsichtig damit, dem Internet die Schuld zu geben. Sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und gegenseitig zu bestätigen ist zutiefst menschlich und hat es schon lange vor der Erfindung von Computern gegeben. Gruppendenken und Gruppenpolarisierung sind sozialpsychologische Phänomene, die unabhängig von Medien gelten und einer der best etablierten Prädiktoren der Partnerwahl ist die Ähnlichkeit im Bezug auf allgemeine Werthaltungen – gleich und gleich gesellt sich gern. Es ist ja nicht so, als würden wir uns im echten Leben ständig mit maximaler Meinungsvielfalt konfrontieren. Meine politische Haltung bestimmt zu Teilen meinen Freundeskreis, welche Tageszeitung ich lese und zu welchen Diskussionsveranstaltungen ich gehe. Das ist nicht immer zielführend, um mich mit konträren Meinungen zu konfrontieren – im Internet oder der physischen Welt.
Seit Beginn der Corona-Pandemie scheint es, als würde die Zahl der Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen zunehmen. Welche Rolle spielen Krisensituationen bei der Verbreitung dieser Erzählungen?
Ich gebe Ihnen recht, so scheint es. Tatsächlich ist das aber nicht klar. Diverse verschwörungstheoretische Kanäle auf social media haben Zulauf erfahren, Beratungsstellen verzeichnen einen empfindlichen Anstieg an Nachfragen durch betroffene Angehörige, und es finden bundesweite Demonstrationen statt. Die wenigen belastbaren bevölkerungsrepräsentativen Umfragen jedoch spiegeln das auf der Ebene der Einstellung der Befragten nicht wider. Ich bin also noch nicht überzeugt, ob wir es mit einem Problem der medialen Aufmerksamkeit oder einem der tatsächlichen Zunahme an Verschwörungsgläubigen zu tun haben.
Theoretisch wird das aber tatsächlich erwartet. Verschwörungsnarrative werden in dem Maße attraktiv, in dem Menschen das Gefühl reduzierter Kontrolle über ihr Leben haben – wegen experimentellen Situationen, Erfahrungen von sozialem Ausschluss – oder eben Pandemien. Einerseits weil das Erlebnis des „Durchschauens“ eines ungeheuerlichen Plans einem schon das Gefühl erhöhter Kontrolle wiedergeben kann und andererseits, weil mit der Benennung eines Schuldigen ja die Option ins Spiel kommt, diesem oder dieser das Handwerk zu legen und so Kontrolle wiederzuerlangen.
Im Januar 2021 wurde der Twitteraccount von Donald Trump endgültig gesperrt. Bis dahin hatte er mit über 88 Mio. Followern eine enorme Reichweite und verbreitete unter anderem regelmäßig Verschwörungserzählungen, Hate Speech und Fake News. Wie schätzen Sie diese Form der Kommunikation eines US-Präsidenten ein und was bewirkte die letztendliche Sperrung der Social Media Kanäle Donald Trumps?
Auch ohne wirklich klar belastbare Daten zu haben, glaube ich, kann man den Einfluss Trumps nicht nur in der Verbreitung von Verschwörungsnarrativen, sondern auch in der Mobilisierung nur schwer unterschätzen. Verschwörungsgläubige waren damit nicht mehr mehr oder weniger alleine der Übermacht der korrupten Weltregierung gegenübergestellt, sondern hatten einen mächtigen Alliierten auf ihrer Seite. Das verschafft Gefühle der kollektiven Selbstwirksamkeit, das Gefühl „es schaffen zu können“. In der Forschung zu politischem Protestverhalten ist dieser Optimismus, wirklich etwas erreichen zu können, einer der bedeutendsten Faktoren für die Entscheidung zu politischem Aktivismus.
Nach allem was wir zu „Deplatforming“ wissen, also dem Sperren von Nutzer*innenkonten, die Hate Speech und Desinformation verbreiten, lässt sich nur sagen: es wirkt. Jeder Hasskommentar im Netz ist ein Puzzlestück in dem, was wir deskriptive Normen nennen, also die normative Macht des Faktischen. Menschen orientieren sich daran, was andere vermeintlich machen, an dem was sie für normal halten. Jeder gelöschte Hasskommentar korrigiert dieses Zerrbild, es sei irgendetwas normal daran, sich so zu äußern.
Viele Menschen bezeichnen Verschwörungsanhänger*innen als „verrückt“, als „Idiot*innen“ oder als „verloren“. Wieso ist es in Ihren Augen wichtig, genau dies nicht zu tun?
Erstmal stimmt es empirisch nicht. Verschwörungsglauben zeigt überhaupt gar keinen Zusammenhang mit Intelligenz. Zum anderen ist es in meinen Augen ein politisches Phänomen, eine manichäische Sicht auf die Welt, die ihre Anhänger*innen dazu bringt, die vermeintlichen Verschwörer*innen zu entmenschlichen und zu verdammen. Dem muss ich politisch entschieden widersprechen und mich mit der dahinterstehenden Ideologie auseinandersetzen. Die Titulierung als „verrückt“ vermeidet das und suggeriert, dies sei nicht nötig, weil die Betroffenen ja nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte seien. Zuletzt hat diese Gesellschaft ohnehin ein Problem mit der Stigmatisierung psychischer Krankheit; die Bezeichnung von gefährlichen Ideologien als eine solche ist sicherlich nicht geeignet, die dringend notwendige Destigmatisierung zu erreichen.
Pia Lamberty sagt in ihrem Buch, dass Fakten kaum dazu beitragen können, Verschwörungsanhänger*innen zum Überdenken ihrer Ansichten zu bringen. Würden Sie dieser Aussage zustimmen? Wenn ja, was kann man, wenn Fakten nicht das richtige Mittel sind, dann tun – auch in Bezug auf Freund*innen und Familienangehörige?
Die Schwierigkeit mit den Fakten ist, dass wir – wenn wir an ihre Macht glauben – einem sehr naiven Verständnis von Fakt unterliegen. Als wäre etwas einfach und unwidersprechlich wahr und das könne man einfach so sehen. So ist es ja aber nicht. Ich vertraue bestimmten Quellen wie Qualitätsmedien und Wissenschaft, und deshalb vertraue ich der dort jeweils vorgeschlagenen Sicht auf die Welt. Wenn ich diese Quellen als korrupte Handlanger von Verschwörer*innen sehe, tue ich das natürlich nicht und halte es stattdessen mit der Version der Dinge, die von „meinen“ Medien vorgeschlagen wird. So kommen wir natürlich nicht gut ins Gespräch wenn ich sage „Die Tagesschau sagt“ und mein Gegenüber erwidert „Ja, aber Russia Today sagt“. Das ist auf dieser Ebene zu einem gewissen Grade auch unauflösbar.
Stattdessen hilft es, Fragen zu stellen, den Anderen ernst zu nehmen, in seinem oder ihrem Bedürfnis, Ungerechtigkeiten aufzudecken, aber auch gemeinsam Inkonsistenzen in Verschwörungsnarrativen oder die Motive derjenigen, die sie verbreiten, zu diskutieren. Man muss viel Zeit investieren wollen, lernt dabei vielleicht aber auch etwas über sich, wenn man sich gemeinsam auf die Suche macht nach einer Antwort auf die Frage, wie wir eigentlich überhaupt ein gemeinsames Verständnis davon, wie die Welt ist, entwickeln können.
Immer wieder hört man, dass es leider keine Seltenheit sei, dass Menschen, die sich kritisch mit Verschwörungsglauben auseinandersetzen, bedroht werden. Sie forschen seit vielen Jahren auf diesem Gebiet. Wie gehen Sie mit Anfeindungen und Belästigungen um?
Ich lasse das nicht sehr an mich heran, muss aber auch ehrlicherweise sagen, dass ich mit vergleichsweise harmlosen Dingen konfrontiert bin. Mal mit Erklär-DVD, was am 11.09.2001 wirklich geschehen sei, mal mit mehrseitigen handschriftlichen Elaboraten oder YouTube Videos, die „aufdecken“, dass ich der Doktorvater von Pia Lamberty sei und ergo also alles mit allem zusammenhänge. Frau Lamberty hat dort deutlich mehr Aggression abbekommen. Einerseits hat sie sich in der Pandemie dankenswerterweise sehr bereitwillig gezeigt, Medien als Interviewpartnerin zur Verfügung zu stehen und stand deswegen ganz anders in der Öffentlichkeit. Andererseits ist sie – und das sagen zu müssen ist der eigentliche Skandal – eine Frau. Frauen in der Öffentlichkeit sind häufig sehr viel größeren Anfeindungen ausgesetzt, sie werden als besonders verkommen und korrupt diffamiert.
Was wünschen Sie sich für öffentliche Debatten über Verschwörungserzählungen?
Eigentlich wünsche ich mir am meisten eine große Offenheit für Fehler. Wissenschaftlicher Fortschritt basiert darauf, dass alle Einsichten immer nur vorläufig sind, bis sie spezifiziert oder korrigiert werden. Diese Bereitschaft, im Lichte besserer Evidenz die Ansicht zu ändern, fehlt mir häufig im gesellschaftlichen Diskurs – nicht nur bei Verschwörungsgläubigen. Auch ich sehe mich manchmal in eine Position gedrängt, mit autoritären Reflexen zu reagieren und zum Beispiel auf Autorität der Wissenschaft oder der öffentlich-rechtlichen Medien zu pochen. Dieser autoritäre Reflex hilft aber gar nicht, und es ist auch eine denkbar schlechte Krücke zu behaupten, etwas muss stimmen, weil Frau Merkel oder der „Spiegel“ es gesagt haben. Statt darauf zu pochen, was stimmt, sollten wir alle lieber neugierig sein, wie es genau ist und wie wir belastbare Evidenz dafür finden können.