geb. Richard Karl Freiherr von Weizsäcker
15. April 1920–31. Januar 2015
deutscher Politiker der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU), 1981–1984 Regierender Bürgermeister von Berlin und erster Bundespräsident des wiedervereinigten Deutschlands
Foto: Bundesarchiv/146-1991-039-11
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“
(Richard von Weizsäcker, Rede zum 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag)
Richard Karl Freiherr von Weizsäcker wurde am 15. April 1920 in Stuttgart geboren und verstarb am 31. Januar 2015 in Berlin im Alter von 94 Jahren. Von 1984 bis 1994 der sechste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und somit auch der erste Bundespräsident des wiedervereinigten Deutschlands. Sein Vater Ernst von Weizsäcker war als Diplomat im hochrangigen Staatsdienst tätig und wurde im Zuge der Nürnberger Prozesse 1949 als Kriegsverbrecher zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt. Er hatte Deportationslisten für französische Jüdinnen*Juden in das Konzentrationslager Auschwitz unterzeichnet und beteiligte sich somit an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch das NS-Regime.
Nach seinem Abitur wurde Richard von Weizsäcker wurde 1938 zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und trat kurz darauf in die Wehrmacht ein, in der er bis 1945 diente. Da er 1945 Fahnenflucht beging, erlebte er das Ende des Zweiten Weltkriegs ohne in Gefangenschaft zu geraten. Nach dem Krieg schloss er in Göttingen sein Studium im Bereich der Rechtswissenschaften ab, das er kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Oxford und Grenoble begonnen hatte. Im Anschluss an seine Promotion arbeitete er für verschiedene großindustrielle Firmen wie unter anderem der Mannesmann AG und Boehringer Ingelheim. 1954 trat er der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) bei. Von 1969 bis 1981 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, in den letzten beiden Jahren als Vizepräsident. Von 1981 bis 1984 war er Bürgermeister West-Berlins: In diese Amtszeit fiel auch sein vielbeachteter Besuch von Ost-Berlin.
Besonders Prägend für von Weizsäckers Amtszeit als Bundespräsident war unter anderem seine Rede anlässlich des 40. Jahrestages der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945, in der er diesen Tag als „Tag der Befreiung“ bezeichnete und sich für einen bewussten Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus stark machte:
„Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. […] Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
1989 wurde er für eine zweite Amtszeit als Bundespräsident gewählt, in der er nach dem Mauerfall der erste Bundespräsident des geeinten Deutschlands wurde. Zeit seines Lebens war der Träger zahlreicher persönlicher Ehrungen und Auszeichnungen zudem in verschiedenen Initiativen und Gremien aktiv; insbesondere ist hier sein Engagement beim Deutschen Evangelischen Kirchentag zu nennen.
Im kollektiven Gedächtnis ist Richard von Weizsäcker – vor allem durch seine Rede zum 8. Mai 1945 – als Symbolfigur eines öffentlichen Wandels der deutschen Erinnerungskultur verankert.
Erinnerungskultur und das Erinnern an den Nationalsozialismus
Unter Erinnerungskultur versteht man die Art und Weise, wie sich sowohl Gruppen als auch einzelne Menschen an die Vergangenheit erinnern und mit dieser umgehen. Seit den 1990er-Jahren ist die Erforschung der Erinnerungskultur fester Bestandteil der Geschichtswissenschaft. In Deutschland beschäftigt man sich dabei zumeist mit den verschiedenen Umgangsformen des Nationalsozialismus, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auftraten.
Zwischen den beiden deutschen Staaten lassen sich große Unterschiede feststellen. In der DDR, die sich selbst als antifaschistisch-demokratisch definierte, wurde erklärt, dass der Nationalsozialismus „ausgerottet“ worden sei. Der Antifaschismus hätte in Form der Sowjetunion das NS-Regime besiegt. Die Nazis in hohen Positionen seien verhaftet und verurteilt worden, sodass in der DDR nur noch unschuldige Bürger*innen verblieben seien, die gemeinsam mit den Sowjets die Nationalsozialisten besiegt hätten.
Da dieses Bild natürlich nicht der Wahrheit entsprach, musste dieses Bewusstsein bei den Menschen durch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) zunächst geschaffen werden. Dafür wurden viele Denkmäler und Erinnerungstafeln initiiert, die verdeutlichen sollten, dass der kommunistische Widerstand den Nationalsozialismus besiegt habe und die Überreste des faschistischen Regimes nicht mehr in der DDR verblieben seien.
In der Bundesrepublik hingegen gestaltete sich der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit anders. Die BRD bekannte sich zum Erbe des nationalsozialistischen Deutschen Reichs, setzte aber anders als die DDR auf Integration statt Exklusion der ehemaligen NS-Elite. Diese Idee wurde auch aus der Not heraus geboren, da man aufgrund des schon beginnenden Kalten Krieges 1949 möglichst schnell einen neuen funktionierenden Staatsapparat brauchte. Gesellschaftlich wollte man einen Schlussstrich zur NS-Diktatur ziehen und sprach sich gegenseitig Missverhalten und Verantwortung ab, um das NS-Regime zu verschweigen. Die jursitische Verfolgung von Straftaten vor 1949 wurde ausgesetzt und es gab eine Bewegung zur Freilassung von NS-Verbrechern, die durch die Alliierten verurteilt worden waren. Der Holocaust hingegen nahm in der Erinnerung der 1950er-Jahre keinen Platz ein.
Erst in den 1960er-Jahren änderte sich, ausgelöst durch Skandale um ehemalige Nazis in hohen Positionen, der Umgang mit der Vergangenheit. Nun wurden Lehrpläne umgestellt, erste Gedenkorte gegründet und in einer umstrittenen Debatte 1965 die Verjährung von Mord abgeschafft. Auch die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und der Eichmann-Prozess waren Anlass für die jüngere „skeptische Generation“ mit dem Schlussstrich der 50er zu brechen. Stellvertretend für den Bruch mit den alten Werten steht wohl auch Willy Brandt, der mit seinem Kniefall am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos im Namen der Bundesrepublik Deutschland still um Entschuldigung und Vergebung bat. Dennoch brauchte es 1979 die amerikanische „Holocaust“-Serie, die die Deutschen durch die Fernseher im eigenen Wohnzimmer zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zwang. Die dadurch erzielte emotionale Ergriffenheit und Empathie mit den Opfern lieferten den Grundstein dafür, die Shoah im kollektiven Gedächtnis zu verankern.
In den 1980ern wurde in der BRD schließlich eine Phase der „Vergangenheitsbewahrung“ eingeleitet. Die nationalsozialistischen Verbrechen waren nun zwar Teil der kollektiven Erinnerung, doch zugleich bestanden in der Forschung noch viele Lücken. Um 1980 entstand daneben eine „Gedenkstättenbewegung“, aus der viele Orte mit Ausstellungen, Gedenktafeln und Denkmälern hervorgingen. Oft gingen diese einher mit Bildungsangeboten, die basisdemokratische Werte vermittelten.
Als wohl bekanntestes Beispiel für die Vergangenheitsbewahrung ist Richard von Weizsäcker zu nennen, der in seiner Rede zum 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag das Ende des Zweiten Weltkriegs klar als Befreiung deutete, jedoch auch daran erinnerte, dass dieses Ereignis nicht von den zwölf Jahren zuvor getrennt werden könne.
Über die Art und Weise des Erinnerns gab es jedoch innerhalb der Intellektuellen regelmäßig Diskussionen, was schließlich im Historikerstreit von 1985/86 mündete. Heutzutage ist das Bewahren der Erinnerung an das NS-Regime ein zentraler Bestandteil des kollektiven deutschen Gedächtnisses. Jedoch lassen sich in der jüngsten Vergangenheit auch wieder rechte Bewegungen beobachten, die versuchen, die Geschichte umzudeuten und erneut einen Schlussstrich darunter zu ziehen. Eine einheitliche Erinnerung an das DDR-Regime lässt sich heute noch nicht feststellen. Dies wird in der Zukunft jedoch sicherlich spannend zu beobachten sein.
Literaturhinweise
Assmann, Aleida (2016): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, C.H.Beck, München.
Braun, Michael: Erinnerungskultur, [aufgerufen am 24.03.2022].Frei, Nobert (2005): 1945 und Wir, Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, Verlag C.H.Beck, München, S. 23-40.
Hammerstein, Katrin und Hofmann, Birgit: „Wir […] müssen die Vergangenheit annehmen“ Richard von Weizsäckers Rede zum Kriegsende 1985, <URL: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/217619/richard-von-weizsaeckers-rede-zum-kriegsende-1985> [aufgerufen am 20. April 2020].
Oppermann, Matthias: Richard von Weizsäcker, <URL: https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/personen/biogramm-detail/-/content/richard-von-weizsaecker2> [aufgerufen am 14.04.2020].
Siebeck, Cornelia (2015): Postnationalsozialistische Identitäts- und Gedenkstättendiskurse, in: Gedenkstätten und Geschichtspolitik, Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland (Heft 16), Edition Temmen, Bremen, S. 30-41.
von Weizsäcker, Richard: Ansprache des Bundespräsidenten zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Berlin 1985 <URL: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2015/02/150202-RvW-Rede-8-Mai-1985.pdf?__blob=publicationFile> [aufgerufen am 20. April 2020].
Wolfrum, Edgar: Geschichte der Erinnerungskultur in der DDR und BRD: [aufgerufen am 24.03.2022].
Zündorf, Irmgard. Biografie Richard von Weizsäcker, in: LeMo-Biografien, Lebendiges Museum Online, <URL: https://www.hdg.de/lemo/biografie/richard-von-weizsaecker.html#jpto-1940> [aufgerufen am 14.04.2020].